Theater der Zeit

Aktuelle Inszenierungen

Heimisch werden auf der digitalen Bühne

von Tom Mustroph

Erschienen in: Theater der Zeit: Die Spieler – Das Schauspielhaus Bochum (06/2020)

Assoziationen: Theaterkritiken Badisches Staatstheater Karlsruhe

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Theaterprodukte in den digitalen Raum zu werfen, ist gar nicht so schwierig. In Lockdown-Zeiten wurden Webbrowser kurzerhand zu Schaufenstern eines ganzen Archipels von Theatermuseen. Was wurde nicht alles in Netz geschaufelt, was Monate, ja Jahre und zuweilen sogar Jahrzehnte lang auf Festplatten, Videokassetten sowie den historischen U-Matic-Magnetbändern gespeichert war, ohne dass je ein menschliches Auge von den Inhalten Notiz genommen hatte? Als Hinweis auf die Relevanz von Theatermuseen war diese Streaming-Praxis sicherlich gut.

Das, was Theater sonst ausmacht, was seine Stärke ist, geriet dabei aber meist aus dem Fokus. Präsenz und Ko-Präsenz waren bestenfalls mittelbar erlebbar, Emotionen wurden eher dann ausgelöst, wenn man sich über die Pannen der Übertragungssoftware ärgerte oder über unfreiwillig komische Szenen ins Schmunzeln geriet.

Momente, in denen die neue vierte Wand von Computerbildschirm und Smartphone-Oberfläche durchbrochen wurden, gab es dennoch. Verantwortlich dafür waren meist Künstlerinnen und Künstler, die nicht aus purer Vorstellungsabsage-Not ins digitale Wasser sprangen und dabei nur die Webcam gegen die Bühnenrampe austauschten, sondern die sich schon länger mit virtuellen und Onlineformaten auseinandergesetzt hatten.

Dabei waren unterschiedliche Strategien zu beobachten. Es gab Gruppen, die stoisch ihren Projektfahrplan durchzogen, Corona hin, Corona her. Zu ihnen gehörte das Onlinetheater.live, eine bereits seit 2017 bestehende Gruppe um den Schauspieler Saladin Dellers. Ein Jahr lang dauerte etwa die Produktion ihres Multiplayer-Theater-Games „Hyphe“. Zunächst wurde das Script um den rätselhaften Vogelmenschen Birder ausgearbeitet. Er ist eine Figur, die Ehrlichkeit in die menschlichen Beziehungen einführen will und die mit kurzen Videobotschaften und einem längeren Livestream in das Spiel eingreift. „Im November übergaben wir das Script an unsere beiden Programmierer“, erzählt Dramaturgin Fabiola Kuonen. Diese schrieben die einzelnen Module in der Programmiersprache JavaScript. Als Teilnehmer des Spiels loggte man sich zunächst über einen herkömmlichen Webbrowser ein. Ein Countdown zählte die wenigen Minuten zum Start der Vorstellung herunter – und dann war man drin im Chat-Spiel. „Hyphe“ lud die Teilnehmer in ein rhizomatisches Beziehungsgefüge ein. Eine Karte machte alle Mitspieler als Punkte sichtbar. Verbindungen zwischen ihnen ließen sich über Linien nachvollziehen, die Qualität der Verbindungen war an der Dicke der Linien erkennbar.

Die Kommunikation war freilich eingeschränkt. Fragen kamen vom System und waren nicht frei wählbar. Und für ein tieferes Eintauchen in den Diskurskomplex Ehrlichkeit war das Spiel trotz insgesamt zwei Stunden Dauer dann doch zu kurz. Immerhin schuf „Hyphe“ einen Möglichkeitsraum zum Erkunden, in welchen Fragesituationen man selbst eher zur Wahrheit oder zum Flunkern neigt. Mit einzelnen Dialogpartnern entwickelten sich verspielte Flunkerdiskurse, während mit anderen tatsächlich erste Schritte in eine Wahrhaftigkeitsdebatte unternommen wurden. Beleg für die Faszination war, dass viele noch gerne weiterspielen wollten.

Dies war auch bei anderen, ebenfalls zumindest partiell gelungenen Ausflügen in die digitalen Dimensionen der Fall. Den dabei aufkommenden Suchtfaktor könnte man sogar als ein Kriterium fürs Gelingen einführen. Bei den Chat-Games „Lockdown“ und „Twin Speaks“ der Gruppen machina eX und vorschlag:hammer war das Bedürfnis über den verlängerten Austausch sogar in die Aufführung selbst integriert. Beide Projekte waren – im Gegensatz zu „Hyphe“ – nicht selbst programmiert, sondern benutzten als digitale Spielstätte die Messenger-Plattform Telegram. Der Zugang erfolgte meist über Smartphone, selbst wenn ambitioniertere Nutzer Telegram auf dem Computer installiert hatten und so auf mehreren Ebenen spielen konnten. Das war vor allem bei „Lockdown“ von Vorteil. Bei diesem von machina eX in Coronazeiten sehr schnell auf der Basis der vorherigen Produktion „Patrol“ entwickelten Spiel mussten Kleingruppen aus jeweils drei Teilnehmern das Verschwinden einer WG-Mitbewohnerin aufklären. Die Spurensuche erfolgte über Audio-Botschaften und schriftliche Nachrichten. Man wurde zu externen Websites geführt und hatte Karten zur Hilfe. Aus dem Chat heraus führte man Telefonate, und die ganze verfügbare digitale Infrastruktur von Telefonbüchern über Handelsregister, Bebauungspläne und Kartendienste wurde von einzelnen Spielern eingesetzt. machina eX verschmolz die fiktionale Wirklichkeit der WG um die verschwundene Tess so stark mit der realen Infrastruktur der Stadt Düsseldorf, dass die Angestellten manches echten Restaurants, mancher Immobilienagentur, deren Namen sich nur marginal von den Ereignisorten des Spiels unterschieden, auf ihren Antwortbeantwortern kryptische Nachfragen nach einer gewissen Tess vorgefunden haben dürften. Das Projekt entstand in Zusammenarbeit mit dem FFT Düsseldorf, mit dem die Gruppe in der Vergangenheit auch eine Doppelpass-Förderung verbunden hatte.

Während machina eX bei ihrem Telegram-Spiel vor allem auf Karte, Sprach- und Schriftnachrichten zurückgriff, zeichnete sich „Twin Speaks“ von vorschlag:hammer durch den opulenten Einsatz von Videos aus. Auch hier bot eine Kriminalstory um eine verschwundene Person das narrative Gerüst. Die Teilnehmer blieben selbst aber passive Beobachter und konnten nicht mit eigenen Initiativen in die Suche eingreifen. Die Sendefunktion war, abgesehen von zwei Pausensituationen, für die Dauer des Spiels ausgeschaltet. Die Verlagerung eines klassischen „Tatort“-Szenarios auf die Mixed-Media-Struktur von vorproduzierten Video- und Audiobotschaften sowie Livevideo und -audio plus Schriftnachrichten funktionierte aber tadellos.

vorschlag:hammer konnte bei „Twin Speaks“ auf die Videosequenzen der eigentlich für den Bühnenraum konzipierten Produktion, die bereits 2019 Premiere hatte, zurückgreifen. Aufgrund der Filmszenen verknüpfte sich der dörfliche Alltag im Ereignisort Birsfelden sogar noch stärker mit der theatral-digitalen Fiktion, als dies im Fall von „Lockdown“ der Fall war. Beide Games erzeugten einen technologisch erweiterten und narrativ wie emotional aufgeladenen Raum. Das coronabedingte Ausweichmanöver auf die Plattform Telegram zeigte in beiden Produktionen so große Potenziale auf, dass multimediale Messengerdienste auch in Zukunft zumindest Nebenspielstätten der Theater bleiben sollten. „Lockdown“ wurde über das FFT Düsseldorf gezeigt, „Twin Speaks“ zuerst am Ballhaus Ost, später am Schlosstheater Moers – einem aktuellen Partner im Doppelpass-Programm. Es ist wohl kein Zufall, dass technologisch aufwendigere Produktionen von freien Gruppen realisiert werden können, die in längerfristigen Förderzusammenhängen stecken.

Das trifft auch auf die CyberRäuber und ihr ebenfalls im Rahmen einer Doppelpass-Partnerschaft mit dem Badischen Staatstheater Karlsruhe realisierten Projekt „CyberBallet“ zu. Die CyberRäuber schlagen einen für die Raum- und Präsenzkunst Theater besonders reizvollen Weg ein. Auf der Plattform VRChat richteten sie mehrere Bühnen ein. In diese begab sich das Publikum als Avatar. In der Bildschirmvariante konnte man den eigenen Avatar über Tastenkombinationen im Raum bewegen. Mit VR-Brille hatte man die komplette Raumerfahrung. Das überwältigte bei den ersten Besuchen. Angesichts der vielfältigen Möglichkeiten, sich Positionen im Raum zu suchen, Bühne inklusive, die eigene Perspektive zu organisieren und sich auch noch mit anderen Besuchern, die ebenfalls per Avatar präsent waren, ins Verhältnis zu setzen, geriet die Performance selbst ein wenig in den Hintergrund. Bewegungssequenzen des Tänzers und Choreografen Ronni Maciel waren mit Motion-Capture-Verfahren aufgezeichnet und in die virtuelle Realität überführt worden. Dort wurden sie vervielfältigt, gespiegelt, in verschiedene zeitliche Intervalle aufgelöst und wieder zu Formationstänzen zusammengestellt. Der Tänzerkörper wurde optisch ebenfalls bearbeitet. Er war durchlässig und funktional auf ein Hybrid aus Skelett, Muskelgewebe und Blutkreislauf reduziert. Die VR-Künstler Marcel Karnapke und Björn Lengers agierten hier als Demiurgen am digitalen Tänzerkörper. Zugleich zeigten sie mit diversen Projektionsformen und Effekten, was in diesen komplett neuen Räumen alles möglich sein kann. Tanzsequenzen können auf Wände, Decke und Boden gelegt werden. Spiegelungen sind möglich, Projektionen einer Livekamera ebenfalls. Zur Steuerung wurde ein virtuelles Mischpult, das sichtbar im Raum war, genutzt.

In ihrem „CyberBallett“, das ursprünglich als Vorstellung im physischen Theaterraum mit einzelnen VR-Elementen gedacht war und wegen Covid-19 komplett in den VR migrierte, griffen Lengers und Karnapke munter in die Toolbox. Das Spiel um eine künstliche Intelligenz, die sich einen Körper wünscht, könnte als Initialprojekt für eine ganz neue Theatersparte funktionieren.

Entdeckt wurde VR mittlerweile auch von anderen Theaterhäusern. Das Staatstheater Augsburg bietet sogar einen Lieferservice für VR-Brillen an. Der Zugang ist deshalb simpler als etwa zum „CyberBallet“. Musste man dafür erst VRChat installieren und sich idealerweise noch eine VR-Brille besorgen, so offeriert das Staatstheater Augsburg einen sehr niedrigschwelligen Zugang zur VR: Brille bestellen, Tür öffnen, Brille aufsetzen und los geht es. Die beiden derzeit erhältlichen Produktionen „Judas“ und „shifting_perspective“ loten aber nur ganz vorsichtig die neuen Welten aus. „Judas“ ist lediglich die in VR verlagerte Filmaufnahme des Monologs von Lot Vekemans in der Regie von Magz Barrawasser. Immerhin kann man in der schmucken Goldschmiedekapelle der Kirche St. Anna herumspazieren, während Judas-Darsteller Roman Pertl einen Tisch zusammenzimmert und seinen Verrat als Realpolitik zu begründen versucht. „shifting_perspective“ (nach einer Idee von André Bücker und einem Konzept von Ricardo Fernando und Carla Silva) ist hingegen eine Neuproduktion für VR. Ist auch hier der Anfang noch ganz realistisch gehalten, so verlassen die Tänzerkörper später den Schwerkraftraum, schweben am Betrachter vorbei und kreuzen ihre Datenbahnen.

Ebenfalls mit VR experimentiert die Costa Compagnie. Das komplette mit einer 360-Grad-Kamera aufgenommene Recherchematerial für die Produktion „Fight (for) Independence“ wird für einen 3D-Film (Onlinepremiere 18. Juni) und eine VR-Installation (im Edith-Russ-Haus für Medienkunst Oldenburg, bis 14. Juni) aufbereitet.

Insgesamt verlieh der Lockdown vor allem Gruppen und Künstlern, die schon länger digitale Strategien verfolgen, größere Sichtbarkeit. Die Produktionsprozesse sind aber aufwendig. Und nur Glücksumstände wie bereits vorhandenes digitales Material erlaubten überhaupt einzelne Produktionen. Eine Perspektive über den Lockdown hinaus dürften vor allem Formate haben, die auch digital besondere Raumerfahrungen bieten und mit kollektiv geteilten Livemomenten spielen.

Zu letzterem ist in Einzelfällen aber noch nicht einmal großer technischer Aufwand notwendig. Das Berliner Institut für künstlerische Forschung (IKF) adaptierte das biografische Kammerspiel „Hans Schleif“ (Premiere 2011 am Deutschen Theater) jetzt am Schauspielhaus Zürich als Zoom-Konferenz. Die Recherche des Schauspielers Matthias Neukirch über die SS-Karriere seines Großvaters Hans Schleif wurde mit Live-Kameras aufgenommen (Regie Julian Klein). Neukirch schuf mit sparsamen Gesten einen derart intensiven Reflexionsraum, dass die etwa fünfzig Teilnehmer nicht nur zwei Stunden lang dabei blieben, sondern sich danach noch über eigene private wie professionelle Zugänge zur NS-Geschichte austauschten. Das IKF ist zugleich Initiator des Projekts Digitale Bühne. Es will digitale Proben- und Distributionsplattformen entwickeln, die den gesamten Theaterbetrieb unabhängiger von den kommerziellen Anbietern machen.

Links zu den einzelnen Projekten:

https://onlinetheater.live/project/hyphe

https://www.schlosstheater-moers.de/?produktion=twin-speaks-telegram-vorschlaghammer

https://fft-duesseldorf.de/stueck/lockdown/

http://wp11159761.server-he.de/vtheater/de/home/

https://staatstheater-augsburg.de/vr_brille_at_home

https://www.facebook.com/edithrusshaus/?eid=ARB18PaHIipLcx53W1_SCxdzem25vf583kMRUFdfojFarJl16AXYeQxmk7BNK1PVCFooJJKyf3pjYVEB

https://www.costacompagnie.org/de/2020/01/16/2020-fight-for-independence-film/

http://www.artistic-research.de/projekte/aktuelle-projekte/hans-schleif

https://digital-stage.org/

 

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