Essay
Zwischen Illusion und Ideologie
Neue Serie: Dramaturgie der Zeitenwende #01
von Jörg Bochow
Erschienen in: Theater der Zeit: Ensemblekultur heute – Gisèle Vienne Unheimliche Collagen (10/2024)
Assoziationen: Staatsschauspiel Dresden
Ende Januar 2022 haben wir als künstlerische Leitung des Staatsschauspiels Dresden mit dem Wachtangow-Theater in Moskau eine Kooperationsvereinbarung abgeschlossen über eine gemeinsame Produktion von Heiner Müllers „Wolokolamsker Chaussee“. Junge Schauspieler:innen aus Moskau und Dresden sollten gemeinsam und zweisprachig, geleitet von einem ebenfalls gemischten künstlerischen Team unter der Regie von Josua Rösing, über heutige Perspektiven auf den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen künstlerisch arbeiten. Das Goethe-Institut in Moskau hatte diese Ko-Produktion gefördert. Mit dem Beginn des Angriffskriegs russischer Truppen auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hatte sich alles geändert. Wir haben in einer Videokonferenz gemeinsam mit den russischen Kolleg:innen und dem Goethe-Institut das Projekt abgesagt, allerdings noch in der Hoffnung, später wieder einmal über eine Kooperation sprechen zu können. Mittlerweile ist Rimas Tuminas nicht mehr Intendant des Wachtangow-Theaters, er ist nach Litauen zurückgekehrt, das Theater ist von Westeuropa abgeschottet, ein Austausch findet nicht mehr statt. Im Januar 2022 waren wir fest davon überzeugt, trotz der Restriktionen in Russland, Brücken schlagen zu können und uns den schmerzhaften Erfahrungen des nazideutschen Vernichtungskriegs gegen die Völker in der Sowjetunion und auch dem Terror der Stalinzeit künstlerisch widmen zu können in diesem russisch-deutschen Theaterprojekt. Waren wir blind für die Wirklichkeit? Haben wir nicht aufmerksam...