Quelle 8: Das große Buch des menschlichen Körpers – Zur Sozialgeschichte der Anatomie 1500 – 1800
von Robert Jütte
Erschienen in: Lektionen 7: Theater der Dinge – Puppen-, Figuren- und Objekttheater (10/2016)
Bis weit ins 16. Jahrhundert hinein war die Sektion einer menschlichen Leiche ein spektakuläres Ereignis, aber auch ein akademisches Ritual, das weniger der wissenschaftlichen Erforschung des menschlichen Körpers diente, als vielmehr den Zweck hatte, das Ansehen des jeweiligen Lehrstuhlinhabers für Anatomie zu heben und zum Prestige der Universität beizutragen. Bevor mit Vesal ein neues Kapitel in der Geschichte der Anatomie aufgeschlagen wurde, war es die Ausnahme, wenn ein Universitätsprofessor selbst sezierte. Dieses blutige Geschäft überließ man meist den nichtakademisch ausgebildeten Chirurgen. Vesal war einer der ersten, der von der Lehrkanzel herab an den Sektionstisch trat und dort mit dem Skalpell in der Hand dozierte, wie wir es auf dem berühmten Titelholzschnitt seines Hauptwerks sehen.
Doch nicht nur Mediziner übten sich mehr und mehr in der praktischen Anatomie. Vesals Klage über die Künstler, die ihn angeblich bei der Sektion störten, verweist auf ein Phänomen, das im ausgehenden 15. Jahrhundert erstmals in Italien zu beobachten ist. Künstler wie Palluaillo und Michelangelo studierten die Anatomie des Menschen an Leichen. Der berühmteste „Künstler-Anatom“ ist zweifellos Leonardo da Vinci, der mindestens zehn Leichen sezierte, seine anatomischen Studien in Zeichnungen von beeindruckender Detailgenauigkeit festhielt, mit Wachsabgüssen menschlicher Körperteile experimentierte und eine Darstellungsform fand, die es ermöglichte,...