Ausland
Magische Landschaft
Die Tanztriennale Danse l’Afrique danse! und Christoph Schlingensiefs Operndorf in Burkina Faso
von Renate Klett
Erschienen in: Theater der Zeit: Playtime! – Der Theatermacher Herbert Fritsch (05/2017)

Danse l’Afrique danse! ist das größte Tanzfestival des Kontinents und findet alle drei Jahre in einem anderen Land statt. Die vom Institut Français Paris initiierte und subventionierte Triennale wurde Ende letzten Jahres, nach Stationen in Madagaskar, Tunis, Bamako und Johannesburg, in Ouagadougou veranstaltet, der Hauptstadt des westafrikanischen Burkina Faso. Ein dicht gedrängtes Programm mit bis zu acht Aufführungen pro Tag an unterschiedlichen Spielstätten, die durch Shuttle-Busse verbunden sind. Nicht alles ist gut, vieles jedoch höchst inspirierend.
Die beste Aufführung, um es gleich vorwegzunehmen, ist „Du désir d’horizons“ von Salia Sanou (Burkina Faso) – die überzeugendste Arbeit zum neuen Weltthema Flucht und Vertreibung, die ich bislang im Theater oder Tanz gesehen habe. Sanou beschreibt das Elend und die Angst der Flüchtlinge in großen, starken Gruppenbildern, aber er zeigt eben auch ihre Stärke, zeigt ihren Mut und ihre Schönheit. Es sind Menschen, die man lieb gewinnt, die man bewundert, und ihre schiere Lebensfreude am Schluss, wenn sie lachend auf Motorrädern über die Bühne donnern, ist so berührend wie ansteckend.
Salia Sanou, einst Tänzer bei Mathilde Monnier, später Mitbegründer des Choreografischen Zentrums La Termitière in Ouagadougou, das neben dem lokalen Institut Français Hauptspielstätte des Festivals ist, gehört zu den berühmtesten Choreografen Westafrikas. Mit diesem „Wunsch nach Horizonten“ hat er seine vielleicht beste Arbeit geschaffen. „Ich habe in einem großen Flüchtlingslager im Norden von Burkina, an der Grenze zu Mali, mehrere Workshops gegeben“, sagt er. „Dabei habe ich viel vom Lagerleben begriffen und beschlossen, nicht die Armut und den Schrecken zu choreografieren, sondern die Poesie dieser Körper, die nichts haben außer der Hoffnung auf die Zukunft, die Horizonte.“ Gerade das macht die Aufführung so human und so triumphal, weil sie den Menschen dadurch ihre Würde zurückgibt, ihre Lebenslust und ihre Identität.
Um die Wiederherstellung der Würde geht es auf ganz andere Weise auch in „Entre-deux II: Lettre à Guz“ von Dorine Mokha aus der Demokratischen Republik Kongo. Das kleine eindringliche Solo verarbeitet Autobiografisches: Mit zehn Jahren wird Dorine (trotz des weiblichen Vornamens ein Junge) von Guz missbraucht, ein Verbrechen, über das der Mantel des Schweigens gelegt wird. Seither sucht Dorine nach Guz, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen; vielleicht sitzt er ja sogar hier im Saal. Die verstörenden Bilder aus Schatten und Einsamkeit, der immer wieder sich aufbäumende Körper, der verzweifelte Kampf ums Gehörtwerden – all das geht unter die Haut und lässt einen lange nicht los.
Auch das Solo „XXL“ von Kaisha Essiane aus Gabun prägt sich ein. Die Tänzerin stellt ihre üppigen Formen bewusst aus und verteidigt sie. Sie räkelt sich wohlig auf einer Drehscheibe, präsentiert ihren Körper wie ein kostbares Kunstwerk, das gerade durch seine Übertreibung beeindruckt, macht klar, dass nicht ihre Formen die Essenz ihres Lebens ausmachen, sondern ihre Gedanken dazu. „I am more than an ass“, sagt sie und besiegt den Blick von außen durch ihre hintergründigen Interpretationen und überraschend grazilen Bewegungen. Das hat Humor und ist eine schlagkräftigere Waffe gegen Vorurteile als all die verklemmten PC-Umschreibungen à la „she is horizontally challenged“. Man lernt: Selbstbewusstsein und Fett können sich gegenseitig steigern.
Noch ein drittes Solo muss erwähnt werden: „Spirit“ von und mit Adonis Nébié (Burkina Faso), das die Spannung zwischen Körper und Geist in traumwandlerisch mysteriöse Bilder fasst. Nébié hat eine starke Bühnenpräsenz und tanzt nackt, um die Verletzlichkeit des Körpers herauszustellen. Die Verletzlichkeit des Geistes ist schwieriger zu fassen, er kämpft gegen Überforderung und Verwirrung, scheint gefährdeter als sein Gegenpart und sucht verzweifelt nach Trost, den er nicht findet, auch nicht in der Religion, wenn ich es recht deute. Das kurze Stück ist eines der rätselhaftesten, dadurch auch nachdrücklichsten des Festivals – man möchte es gleich noch einmal sehen.
An einem Abend, der bis zwei Uhr morgens dauert, werden die Remakes von fünf „Klassikern“ des zeitgenössischen afrikanischen Tanzes präsentiert. Das ist hochinteressant, gerade auch für die europäischen Gäste, lässt sich doch an der Aufeinanderfolge unterschiedlichster Themen, Stile und Handschriften der große Reichtum und die Vielfalt dessen erkennen, was wir allzu gerne unter der Rubrik „afrikanischer Tanz“ versimpeln. Mein Favorit ist das Duo „Ti Chèlbè“ von (und 2003 noch mit) Kettly Noël (Mali). Ein wüster Geschlechterkampf, wie choreografische Röntgenbilder von der Unmöglichkeit des Zusammenlebens zwischen Mann und Frau. Sie bekämpfen sich bis zur Erschöpfung, ohne sich je zu berühren, und die Frau ist eindeutig die Stärkere – aber um welchen Preis? Das Stück wirkt ganz frisch, ganz böse und grandios, und es ist zeit- und ortlos wie sein Thema. Zweifellos die radikalste Aufführung des Festivals.
Die beiden originellsten Vorstellungen sind „Matières urbaines“ von Andréya Ouamba und Tiziana Manfredi (Senegal/ Italien) und „Performers“ von Auguste Ouedraogo und Bienvenue Bazie (Burkina Faso). Die „Städtischen Angelegenheiten“ werden Open Air verhandelt: Auf einem flatternden Gazevorhang, über mehrere Hausfassaden gespannt, verwehen Projektionen des Straßenlebens. Weiß gekleidete Tänzer steigen in Echtzeit aus den gefilmten Szenen heraus, verwischen, vermischen Realität und Fiktion. Die raffiniert einfache Manipulation schärft die Wahrnehmung durch Staunen und Amüsiertsein – nichts ist mehr, was es scheint.
Auch „Performers“ verrückt die Wahrnehmung der Zuschauer, der Titel verweist auf den Inhalt: Zwei Tänzer und ein Musiker veranstalten eine Art Jam-Session aus Bewegung, Musik und Licht. Die Spotlights, von Hand gehalten oder blitzschnell umgehängt, ergeben immer wieder neue Lichtschneisen, in denen sich die Körper bewegen, sehr cool und wie improvisiert, dabei doch sehr präzise gearbeitet. In einem Wald aus Dunkelheit leuchtet da ein Arm, ein Rücken, ein Gesicht auf. Wenn man sich auf den Rausch aus Schlagzeug und Didgeridoo, tanzenden Körpern und Lichtern einlässt, entsteht eine geradezu hypnotische Wirkung: alles kreist, schwingt, taumelt, und die eigenen Sinne tun es auch.
Burkina Faso ist ein kleines, armes Land, aber es verfügt über eine der quirligsten und kreativsten Kulturszenen des Kontinents. Mit FESPACO betreibt es das größte Filmfestival Afrikas, mit Les Récréâtrales eines der renommiertesten Theaterfestivals, und seit der Eröffnung der Termitière vor zehn Jahren, die als Centre de Développement Chorégraphique, kurz CDC, eine ganze Generation von Tänzern und Choreografen ausbildete, Tanzfestivals ausrichtet und ein fachkundiges Publikum herangezogen hat, ist die ganze Stadt dem Tanz verschworen. Alle Vorstellungen sind übervoll, und die Kinder scheinen überhaupt nicht mehr ins Bett zu kommen. Kein Wunder, dass sich Christoph Schlingensief gerade dieses Land ausgesucht hat, um seinen Traum von Festspielhaus für Afrika zu verwirklichen. Ein Abstecher zum Operndorf gehört inzwischen zum Pflichtprogramm für Kulturreisende.
Der Anblick ist jedes Mal wieder überwältigend: die magische Landschaft, die wunderbare Architektur, so leicht, so schön und selbstverständlich (siehe auch Seite 6 ff). In der Mitte des Dorfes klafft immer noch das große Loch, wo einmal das Opernhaus entstehen soll. Aber vielleicht ist das gar nicht nötig, denn Vorstellungen können auch auf der Plattform neben dem Theaterloch stattfinden, die Schlingensief gerne als Marktplatz bezeichnete. Und sie tun es monatlich in loser Folge: Konzerte, Filme, Theater, Tanz, Storyteller treten auf, Fußballübertragungen werden gezeigt. Im Publikum mischen sich dann die ländlichen Bewohner mit der Kunstszene der Hauptstadt. Das Dorf ist vom Architekten Diébédo Francis Kéré wie ein Schneckenhaus angelegt, es umfasst Schule, Krankenstation, Kantine, Wohngebäude, Lagerräume, Werkstätten sowie ein Tonstudio, das allen Interessierten offensteht.
Die Schule hat knapp 300 Schüler/-innen in sechs Klassen. 50 Schüler je Klasse sind für afrikanische Verhältnisse fast schon Luxus, und der Proporz von je zur Hälfte Jungen und Mädchen ist nicht selbstverständlich. Die Kinder haben das große Privileg, die vermutlich schönste Grundschule des Landes zu besuchen und vor allem, einen zusätzlichen Kunstunterricht zu erhalten, wie es ihn sonst nirgends gibt. Das macht ihnen sichtlich Spaß. Sie malen mit Feuereifer, bauen kleine Skulpturen, versuchen sich in kurzen Videofilmen. Ob und was das für ihr künftiges Leben bedeutet, bleibt abzuwarten. Auch die am Rande gelegene Krankenstation bietet mehr als das übliche CSPS (Centres de Santé et de Promotion Sociale) mit Erster Hilfe und Geburtsstation, nämlich eine dringend benötigte Zahnarztpraxis, eine Apotheke und, worauf sie besonders stolz sind, einen altmodischen Ambulanzwagen, mit dem sie im Notfall Patienten ins Krankenhaus bringen können.
Neuerdings gibt es auch Artist-in-Residence-Programme. Die ersten beiden Künstler, die dort für zwei Monate einzogen, waren Ende vergangenen Jahres Pio Rahner aus Bremen und Nomwindé Vivien Sawadogo aus Ouagadougou. Beide sind Fotografen, Rahner zusätzlich Bildhauer. Gemeinsam mit den Schülern wollen sie künstlerische Gestaltungsformen zum Stichwort „Punkt-Fläche-Linie“ erfinden, und sie sind von ihrer Zusammenarbeit sehr angetan. Rahner arbeitet auch an einer Landschaftsskulptur, einem großen Kreis auf der Plattform, gefüllt mit runden schwarzen Steinen, die er in der Umgebung sammelt. Er will sie „Foyer“ nennen, als Verweis auf das Opernhaus, das ja vielleicht doch noch gebaut wird. //