Theater der Zeit

Thema: Kinder- und Jugendtheater

Freispiele

Mit theaterpädagogischem Engagement macht das Junge Ensemble Stuttgart Theater für alle Generationen

von Manfred Jahnke

Erschienen in: Theater der Zeit: Jürgen Holtz – Schauspieler und Scharfdenker (04/2015)

Assoziationen: Kinder- & Jugendtheater Junges Ensemble Stuttgart

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Obschon das Junge Ensemble Stuttgart (JES) als eines der jüngsten Kommunaltheater in der Bundesrepublik erst im Mai 2004 nach zwei Jahren Vorbereitung seinen Spielbetrieb aufnahm, hat es sich überraschend schnell innerhalb der Szene profilieren können. Ein Grund hierfür war, dass die Gründungsintendantin Brigitte Dethier, die bis heute das JES leitet, viele Erfahrungen aus dem Kinder- und Jugendtheaterbereich mit einbringen konnte. Zusammen mit ihrem Team entwickelte sie für Stuttgart ein sich gegenseitig ergänzendes und durchlässiges Dreisäulenmodell, das das professionelle Theaterangebot mit theaterpädagogischen Projekten verbindet und international vernetzt.

Welche hohe Bedeutung die Theaterpädagogik hat, die nicht nur Kinder und Jugendliche zum Spielen bringt, sondern ebenso das Theater der Generationen wie auch Seniorentheater etabliert, verdeutlichen Zahlen aus der Spielzeit 2013/14: Von den 462 Vorstellungen, die es in dieser Jubiläumsspielzeit gab, waren 50 Spielclub-Vorstellungen, die fest im Spielplan verankert waren. In diesen Produktionen vermittelt sich ein hoher künstlerischer Anspruch. Auch soziale Projekte, wie die Arbeit mit jungen Menschen mit migrantischem Hintergrund, werden durch ästhetische Formungsprozesse bestimmt, wenn sie sich auch dabei der Mittel einer performativen Theaterpädagogik bedienen. Die fünfköpfige Abteilung, eine der größten in der Bundesrepublik, bietet darüber hinaus viele Workshops für junge Menschen und Lehrer an, ebenso Ferienkurse und selbstverständlich Vor- und Nachbereitungen in den Schulen sowie Beratung von Schultheatergruppen.

Die theaterpädagogischen Projekte laufen nicht beziehungslos neben dem eigentlichen Spielplan her. Sie sind nicht nur Teil des Gesamtprofils, sondern Brigitte Dethier sucht zusammen mit dem Choreografen Ives Thuwis-De Leeuw auch immer wieder die Begegnung zwischen professionellen und jugendlichen Darstellern. In der Ensembleproduktion „Kein Plan“, der dritten Zusammenarbeit, beschäftigt sich das Team mit bedrängenden Fragen von jungen Menschen, was ihre private und berufliche Zukunft betrifft. Thuwis-De Leeuw hat dazu eine kraftvolle Choreografie entwickelt, die von den Bewegungsmustern der einzelnen Spieler bestimmt wird. Wenn sich diese dann zum Ensemble zusammenfinden, ihre Emotionen mal spielerisch, mal wütend ausstellen, bekommt „Kein Plan“ über die Authentizität der Darstellung hinaus eine starke künstlerische Form.

Im großen Repertoire – im März standen zehn JES-Produktionen auf dem Spielplan, daneben zwei Koproduktionen und ein Gastspiel – haben Stückentwicklungen einen hohen Stellenwert, die von der Regie, der Dramaturgie, zumeist Christian Schönfelder und dem Ensemble, gemeinsam erarbeitet werden. Grundlage sind häufig Romane, aber auch soziale Themen, die in Stuttgart auf der Tagesordnung stehen. Zum Beispiel „Johannes und Margarethe“, das Brigitte Dethier gemeinsam mit Sabine Zeininger und Peter Rinderknecht entwickelt hat. Die Zuschauer werden von den beiden Darstellern persönlich in den Raum geleitet, der von einem großen Schrank dominiert wird und voller merkwürdiger Requisiten ist. Spielfläche und Zuschauerraum vermischen sich auf eine heimelige Weise. Aus der Perspektive der beiden Erwachsenen wird erzählt, was Hänsel und Gretel als Kinder erlebt haben. Ohne das Traumatische des Erlebten zu unterschlagen, wird „Johannes und Margarethe“ auf eine wunderbar humorvolle Weise zu einem Stück über Angstbewältigung.

Auch in der jüngsten Produktion, „Der Kleine und das Biest“ nach dem Bilderbuch von Marcus Sauermann und Uwe Heidschötter, zeigt sich diese Handschrift: Erzählt wird die Geschichte einer Trennung aus der Perspektive des Kindes, das die Erwachsenen dabei beobachtet, wie sie sich in Biester verwandeln, die erst einmal nur mit sich selbst beschäftigt sind. Mit genauem Gespür für die unauffälligen kleinen Veränderungen im Alltag und für die darin enthaltenen komischen Situationen führt Brigitte Dethier auf unterhaltsame Weise in stimmigen äußeren Bildern einen psychischen Prozess vor, an dessen Ende die Rückverwandlung des Biestes in die Mutter steht. Mit Monstermaske spielt Prisca Maier diese überforderte Mutter anrührend, zur Identifikation einladend und doch distanziert, während Nils Beckmann das Staunen des Jungen über diese merkwürdigen Erwachsenen voll ausspielt. Gerd Ritter hingegen entwirft mit wenigen markanten Zeichen seine verschiedenen Rollen. Hinzu kommen Livemusik und eine genaue Ausleuchtung auf einer Bühne, die Dynamik und ein hohes Erzähltempo zulässt.

Ein funktional gestalteter Raum, Livemusik, häufig vom Ensemble selbst gemacht, eine mit Hell-Dunkel-Kontrasten arbeitende Beleuchtung stellen die Möglichkeiten des Ensembles groß aus. Nicht nur Brigitte Dethier, auch – um nur drei der prägenden Regisseure zu nennen – Klaus Hemmerle, Frank Hörner und Christian Müller formen einen Spielstil mit, der trotz schneller Rollenwechsel emotionale Tiefenstrukturen ausloten lässt. Allen ist dabei auch gemein, dass sie stark mit musikalischen Strukturen operieren. Natürlich differenziert sich dieser JES-Stil mit den einzelnen Regiepersönlichkeiten aus. Während die Inszenierungen von Hemmerle mehr von einem spielerisch-musikalischen Grundimpetus getragen werden, sind die Regiearbeiten von Hörner oft von harten Konturen geprägt, während der Zugriff von Dethier als empathische Sympathie gekennzeichnet werden kann. Fünf Schauspieler sind fest engagiert. Darüber hinaus ergänzt sich das Ensemble mit Gästen, die wie Sabine Zeininger oder Peter Rinderknecht schon seit Anbeginn des JES immer wieder auftreten. Wie überhaupt ein fester Stamm von zirka 15 „festen Gästen“ besteht.

Wenn im Kindertheater die Stücke oft aus der Perspektive der Kinder erzählt werden oder zumindest Partei für deren Nöte, Probleme und Ängste ergriffen wird, wird im Jugendtheater eher nach großen Erzählungen wie „Werther“ von Goethe oder „Superhero“ von Anthony McCarten gesucht oder in Ensembleproduktionen die Suche nach Identität in einer problematischen Welt zur Darstellung gebracht. Dabei wird weder belehrt noch unterrichtet. Das Publikum befindet sich auf Augenhöhe. Dazu trägt auch bei, dass das JES sich in seiner Jubiläumsspielzeit ein neues Format, die „Freispiele“, geleistet hat. Hier konnten die Schauspieler mit ungewohnten Formen experimentieren, ihre Möglichkeiten in Tanz, Performance etc. erweitern. Ein schöner Nebeneffekt dieser Freispiele, von denen es zehn gab, ist, dass sich drei davon als spielplantauglich erwiesen und in dieser Spielzeit in überarbeiteter Form übernommen wurden. Besonders erfolgreich ist „Ich will!“, ein Cross-over aus Tanz und Schauspiel in der Regie von Brigitte Dethier und Hendrik Lebon. Das Format wird fortgeführt.

Bleibt als dritte Säule die internationale Verflechtung. Alle zwei Jahre richtet das JES das internationale Kinder- und Jugendtheaterfestival Schöne Aussicht aus, zusammen mit einem kuratierten baden-württembergischen Kinder- und Jugendtheatertreffen. Hier kann man nicht nur Theater aus Europa sehen, sondern auch aus Südafrika oder Korea. Darüber hinaus schafft das Festival die Möglichkeit, Vernetzungen herzustellen. Mustergültig gelang das mit der internationalen Gruppe NIE, die nicht nur ihre Produktionen zeigte, sondern auch ein Stück mit dem JES entwickelte. Oder mit der Gruppe La Baracca Teatro Testoni Ragazzi aus Bologna, unterstützt durch den Fonds Wanderlust der Kulturstiftung des Bundes. Das Modell des JES funktioniert gut und lässt bei allem Erfolg auch die Freiheit, neue Wege auszuprobieren – und immer wieder zu überraschen. //

 

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