Magazin
Statt Corona-Stillstand wieder „Fast Forward“
Die Hybridausgabe des Dresdner Festivals für junge europäische Regie
von Michael Bartsch
Erschienen in: Theater der Zeit: Oliver Bukowski: „Warten auf’n Bus“ (01/2022)
Assoziationen: Theaterkritiken Sachsen Festspielhaus Hellerau Staatsschauspiel Dresden

Es ging zumindest wieder vorwärts bei „Fast Forward“ in Dresden. Nicht so „fast“, wie man es bei einigen Beiträgen in den elf Braunschweiger und Dresdner Jahrgängen schon erlebte und wie man es bei noch wenig vom kommerziellen Druck beeinflussten frischen Ensembles erwarten kann. Denn eine faszinierende, im Gedächtnis haftende Inszenierung war 2021 nicht dabei. Aber nach der behelfsmäßigen Onlinevariante infolge des Lockdowns ein Jahr zuvor war zumindest die Hälfte der acht Wertungsstücke wieder live zu sehen.
Trotz der 2G-Bedingungen wurde das reduzierte Platzangebot im Kleinen Haus des Staatsschauspiels und im Festspielhaus Hellerau gut angenommen. Die Kommunikation aber blieb eingeschränkt, auf einen Publikumspreis musste verzichtet werden. Rückblickend erscheint aber das Schicksal überaus gnädig, denn nur eine Woche nach Festivalende am 14. November mussten in Sachsen schon wieder alle Kultureinrichtungen schließen.
Die im Staatsschauspiel mit der Festivalgestaltung beauftragte Charlotte Orti von Havranek konnte bei ihrer Europa-Umschau deshalb auch nur passende Formate berücksichtigen. Es habe nichts mit einer Vorab-Auswahl zu tun, dass 2021 nur ein Beitrag aus den sonst meist gesellschaftskritisch aufregenden Theatern der mittel- und osteuropäischen Transformationsstaaten zu sehen war, stellte sie klar.
Dieses polnische Gastspiel des 1945 gegründeten TR-Theaters Warschau bestritt den Auftakt und erschien spontan preisverdächtig. „Serce“ geht zurück auf das „Herz der Finsternis“, eine erschütternde Kolonialerzählung von Joseph Conrad aus dem Jahr 1899. Autor und Regisseur Wiktor Bagiński ist ein polnischer Schwarzer oder ein schwarzer Pole, spricht also authentisch und überzeugend. Die Suche nach dem Vater, mithin nach einem Teil der Identität, die polnische Debatte um Abtreibungen und traditionell egoistisch-patriarchalische Männerrollen durchdringen und überlagern das Hauptthema von Herkunft und Hautfarbe.
Auf den zweiten Blick wirft die Inszenierung Bagińskis sogar die provokante Frage unserer Idealisierung aus Afrika stammender Flüchtlinge und Mitbürger auf. Denn auch sie sind in kulturell geprägten Rollen gefangen, können wie Vater und Sohn im Stück schuldig an Frauen werden. Das Rassismusthema griff auch Ayşe Güvendiren in 30 Interviews mit farbigen Kulturschaffenden auf, ein Onlinebeitrag.
Einem zweiten Themenstrang folgten Festivalbeiträge zu inneren Erosionserscheinungen westlicher Gesellschaften. Die britische Regie-Preisträgerin Jaz Woodcock-Stewart zählt mit ihrer Tanz-Kombination „Civilisation“ zu diesen Kritikerinnen. Es geht auf den ersten Blick um Reaktionen einer jungen Frau auf einen Schicksalsschlag, auf einen tragischen Verlust. Titel und Inszenierung legen aber auch nahe, dass es um Kulturkritik einer Lebensart, um den Verlust des Tradierten überhaupt geht. In den Mikrokosmos eines spießig eingerichteten Zimmers dringt nur sporadisch über die üblichen Kommunikationskanäle die Außenwelt ein und beherrscht dennoch das konsumabhängige Verhalten der hier lebenden Solistin.
Dem verwandt erscheint der Onlinebeitrag „Fuck you, Eu.Ro.Pa!“ von Nicoleta Esinencu. Auch in diesem Monolog über die versuchte osteuropäische Adaption westlicher Segnungen steht am Ende der ratlose Blick auf all das Wohlstandsgerümpel auf dem Teppich-Spielfeld. Auf ein dem Theater verwandtes Milieu übertragen, zielte das erstaunlich selbstironische türkische Stück „Ama“ in eine ähnliche Richtung. Eine Parodie auf die dortige Bohème.
Kämpferischer gab sich der belgische Beitrag über den 1892 hingerichteten französischen Anarchisten Ravachol. Wann schlägt das Arrangement mit dem eigentlich nicht Hinnehmbaren in offene Empörung, ja Gewalt um? Gibt es ein moralisches „Recht auf Verbrechen“, wie es Dostojewskis Raskolnikow postuliert, wenn dadurch Tausende, ja Millionen verschont werden? In seiner Apologie empfindet Ravachol „keine Reue in einer Gesellschaft, die den Kampf zwischen Menschen organisiert“.
Für eine dramatische Reflexion der Coronafolgen war es wohl noch zu früh. Die preisgewürdigte Inszenierung „Civilisation“ ließe sich auch als Darstellung einer isolierten Sphäre interpretieren. Etwas an vermisster Geselligkeit bot immerhin die kommunikative Schnitzeljagd des deutschen Studios Beisel hinaus in die Dresdner Heide. Es liegt nahe, dass sich die teilnehmenden Bühnen keine opulente Ausstattung leisten können. Erneut fiel aber die naturalistische Konventionalität der wenigen Bühnenbilder auf, kaum Abstraktionen unter der jungen Avantgarde. Aber es ging zumindest wieder vorwärts. //