Theater der Zeit

Bericht

Neuer Zirkus, neues Bauen, neue Machtverhältnisse

von Tom Mustroph

Assoziationen: Nordrhein-Westfalen Zirkus Tim Behren Overhead Project

„How a spiral works“ von Art for Rainy Days beim CircusDanceFestival in Köln. Foto Jevgenija Cholodova
„How a spiral works“ von Art for Rainy Days beim CircusDanceFestival in KölnFoto: Jevgenija Cholodova

Anzeige

Anzeige

Anzeige

Pfingsten meinte es gut mit dem CircusDanceFestival. Die Sonne lachte die ganze Zeit auf das Festivalgelände am Rhein herunter. Und die große Wiese mit den verschiedenen Zelten und Open Air-Bühnen füllte sich mit Menschen, die eigens zu dem Festival gekommen waren, und auch solchen, die durch Zufall herkamen und angesteckt von der Atmosphäre blieben.

Ein Hingucker besonderer Art war die 360 Grad-Bühne, die eigens für das Festival entwickelt wurde. Sie ist eine Art entkerntes Zirkuszelt. Wer dem Motto „Form follows Function“ anhängt, mit dem Vertreter der Architekturmoderne des letzten Jahrhunderts allerlei Stuck und anderen Zierrat von tragenden Wänden entfernten, wird auch von dieser Konstruktion begeistert sein. Mehrere Stahlträger zeigen steil in den Himmel. An ihrer Spitze können Vertikalseile, Trapeze und andere Utensilien der Luftakrobatik befestigt werden. Auch Scheinwerfer, die die Künstler:innen darunter ins rechte Licht setzen können, sind auf der Konstruktion angebracht.

Diese innovative Bühne war Schauplatz für meist ganz frische, zum Teil sogar zum ersten Mal vor Publikum aufgeführte Stücke. Izabelé Kuzeyté von der litauischen Gruppe Art for Rainy Days etwa schwang sich am Vertikalseil hoch in die Lüfte. Sie schlang sich das Seil in immer neuen Variationen um den Körper und löste sich wieder aus den Schlingen, dabei durchaus auch ein paar Meter tiefer sausend. Zuweilen war das Seil auch mit dem Haar ihrer am Boden stehenden Partnerin Alise Bokaldere befestigt. Es wirkte wie ein riesiger Loreley-Zopf, geografisch nicht ganz unpassend, liegt doch der Legenden umwobene Loreley-Felsen nur etwa 140 km flussaufwärts am Rhein.

Mit einem Cyr Wheel hantierte hingegen Josefina Colli und erkundete dabei vor allem das poetische Potential von Rotationen. Mit dem Gegensatz von Baseballschlägern und Frauenkörpern operierten die Tänzerinnen Neshama Bazer und Rotem Greenberg. Dabei verbanden sich die martialischen Keulen mit den beiden Künstlerinnen, die mit ihren Körpern den Energieimpuls der Schlaginstrumente aufnahmen. Drei Serien von Kurzstücken bzw. Auszügen längerer Stücke wurden auf dieser Bühne präsentiert.

Ein anderer Spielort unter freiem Himmel war das Amphitheater. Hier performte unter anderem die Kontorsionistin Alice Rende im Inneren einer mehrere Meter hohen Stele aus Glas. Im sehr engen Innenraum wirkte sie mal wie eine Gefangene, mal wie ein kostbares, durch den Behälter geschütztes Wesen. Nur durch den Druck von Gliedmaßen und Oberkörper auf die Innenwände presste sie sich in die Höhe, mit dem Drang nach Freiheit und dem Scheitern der Erlangung von Freiheit spielend.

Die Bandbreite der eingeladenen Arbeiten war groß, wie sich schon an diesem Aufriss ablesen lässt. Das CircusDanceFestival ist ein wachsender Organismus. 2020 erstmals in einer Pandemie gerechten Form organisiert, wird es von Jahr zu Jahr größer und umfangreicher. „Das liegt auch an der guten Förderung durch die Bundeskulturstiftung“, sagt Festivalmitgründer und -Kurator Tim Behren Theater der Zeit. Behren selbst verkörpert die Annäherung von Zeitgenössischem Zirkus und Zeitgenössischem Tanz geradezu paradigmatisch. Ausgebildet als Akrobat an der Brüsseler Zirkusschule ESAC kam er schon dort mit zeitgenössischem Tanz in Berührung. In seiner Compagnie Overhead Project verbindet er als Choreograf bei seinen Versuchen, mit bewegten Körpern Räume zu erkunden, akrobatische und tänzerische Elemente. Mit „What is Left“ war auch eine Produktion der Gruppe im Festivalprogramm. Sie überzeugte durch formale Strenge, durch die die intensive athletische Arbeit auf eine neue Ebene gehoben wurde. Auf einer Art Laufsteg vollführten fünf Performer:innen Hebefiguren und bildeten zwei- bis dreistöckige Menschenpramiden. Die Gebilde lösten sich immer wieder schnell auf, um zu neuen Zweier-, Dreier- oder Fünferkonstellationen zusammengeführt zu werden.

Raum bot das Festival auch für Vertreter der Jugendzirkus-Szene. Das Junge Ensemble des Berliner Circus Schatzinsel spielte in „Verwundbar“ mit der Verletzlichkeit von Wesen jeder Art. Die jungen Artist:innen verbanden sich die Köpfe – und zeigten dann sehr virtuose Darbietungen mit Diabolo, am Vertikaltuch, auf einer Laufkugel und am Trapez. Berührend war dabei das Wechselspiel aus dem Zusammenhalt der Gruppe mit Sequenzen, in denen einzelne Protagonisten geradezu feindselig ausgegrenzt wurden. In die Arbeit flossen auch biografische Erfahrungen der Jugendlichen ein. „Verwundbar“ ist zu einem Ereignis geworden, das ohne Worte die Dynamiken von Mobbing sowie die Versuche von Lösung und Heilung zu erzählen vermag.

Die narrative Kraft, die der zeitgenössische Zirkus für sich als Distinktionsmerkmal zum traditionellen Zirkus gern geltend macht, entfaltete sich in diesem Stück eines Jugendzirkus auf eindrucksvolle Art und Weise.

Schriller Höhepunkt des Festivals war die Symbiose aus Punk-Konzert und Zirkus der finnischen Gruppe Muovipussi. Worte und Klänge wurden rückwärts wie vorwärts durch Syntheziser und Klangmodulatoren gejagt. Zwischendrin zauberten die drei Musiker:innen sich selbst weg oder verschmolzen zu Körperskulpturen. Den ganz neuen Weg, Performances nicht mehr für Menschen, sondern nichtmenschliche Publika wie Sofas oder Teichenten zu entwickeln, beschrieb die litauische Künstlerin Marija Baranauskaite.

Eröffnet wurde das Festival im und um den würfelförmigen Pavillon des Hauses der Architektur in der Kölner Innenstadt. Dort trafen wieder einmal Neues Bauen und Neuer Circus aufeinander.

Die diesjährige Ausgabe des Festivals zeichnete sich durch einen neugierigen Blick auf zahlreiche Nachbarkunstsparten aus. Auch die Vernetzungsaspekte dieser noch jungen Szene wurden berücksichtigt, etwa in Präsentationen und Diskussionen des internationalen Netzwerks von Zirkuskunstpublikationen INCAM oder Awareness-Veranstaltungen der Initiative Feministischer Circus ifc.

So präsentierte das CircusDanceFestival in Köln nicht nur zahlreiche Positionen des zeitgenössischen Zirkus. Es wurden auch viele Verbindungen zwischen der bewegten Raumkunst Zirkus und der statischen Raumkunst Architektur hergestellt. Und erfreulicherweise wurde der Initiative Feministischer Circus Raum zur Infragestellung von Hierarchien zur Verfügung gestellt.

Erschienen am 2.6.2023

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Das Ding mit dem Körper. Zeitgenössischer Zirkus und Figurentheater
Theaterregisseur Yair Shermann