Theater der Zeit

Thema

Rache ist Blutwurst

Worüber dreißig Jahre nach den Um- und Abbrüchen im Osten zu reden wäre – und mit wem

von Wolfgang Engler

Erschienen in: Theater der Zeit: Test the East – 30 Jahre Mauerfall (11/2019)

Assoziationen: Sachsen Brandenburg

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Brandenburger und Sachsen haben gewählt. Kein Weltereignis, auch keine großen Überraschungen im Ergebnis. Rund jeder Vierte entschied sich für die AfD, die nun zweitstärkste Kraft in diesen Bundesländern ist. „Wir sind gekommen, um zu bleiben“, triumphierte der sächsische Spitzenkandidat am Wahlabend, und seinen Worten darf man Glauben schenken. Denn einen neuen Trend förderten Wahlanalysen dann doch zutage: Jung- bzw. Erstwähler verteilten sich in hohem Maße auf die Grünen, das war schon bei früheren Wahlen zu beobachten – erstmals aber auch auf die AfD. Da wächst sich offenbar so leicht nichts aus. In Thüringen zeichnet sich ein ähnlich starkes Abschneiden der Neuen Rechten ab. Kommt es dazu, steht womöglich eine politische ­Premiere ins Haus. Um eine Regierungsbeteiligung der AfD mit stabilen Mehrheiten zu verhindern, müssten Linkspartei und CDU miteinander koalieren und noch einen Dritten in dieses Bündnis ziehen. Schwer vorstellbar. Aber die Entwicklung im ­Osten Deutschlands hat schon so manche Erwartungen durchkreuzt, Denkverbote aufgelöst, ­warum nicht auch dieses? Wenn nicht jetzt, dann bei nächster ­Gelegenheit. Der Osten ist diesbezüglich Avantgarde, seit dem ­Aufschwung der Neuen Rechten mehr denn je. Über die Gründe dieser Vorreiterrolle herrscht Streit.

Eine lange dominierende Sicht begreift sie als Ausdruck einer Vergangenheit, die einfach nicht vergehen will, als Spätfolge Jahrzehnte währender Diktaturen. Anders als die Westdeutschen seien die Menschen im Osten nach 1945 binnen Kurzem von einem „totalitären Regime“ ins nächste gestolpert. Sie hätten sich an die Üblichkeiten „geschlossener Gesellschaften“ äußerlich wie innerlich angepasst, einen kollektiven Habitus entwickelt, der unverkennbar autoritäre Züge getragen habe. Nach dem Aufbruch von 1989 und dem nachfolgenden Beitritt zur Bundesrepublik unversehens in die „offene Gesellschaft“ entlassen, erlebten sie diese jähe Wende vielfach als Schock und klammerten sich, damit zurechtzukommen, an ihr mentales Erbe. Derart blockierten sie die innere Ankunft im Westen, ihre Integration in die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“. Ihre Aversion gegen Neues, Fremdes und Fremde, ihre Phobien, ihr bald latenter, bald manifester Rassismus seien Ausdruck des Fortschleppens ihres in der DDR erworbenen und seither nicht abgeworfenen Gepäcks.

Angenommen, es verhielte sich so, wie diese Betrachtung es nahelegt, drängt sich sogleich eine Frage auf: Warum wurde diese toxische Mitgift im Verlauf der zurückliegenden drei Jahrzehnte gesamtdeutscher Geschichte nicht zumindest etwas aufgezehrt? Diese Frage richtet sich an die Überzeugungskraft der neudeutschen Gesellschaft für die Ostdeutschen. Ihr dadurch auszuweichen, dass man dieses Geschichtskapitel kurzerhand überspringt, als wäre es keiner eingehenderen Untersuchung wert, und stattdessen stur auf die DDR als einzigen Grund des Übels rekurriert, verfehlt den Ernst der Lage. Gewiss, die Ostdeutschen lebten bis 1989 in einer ethnisch und kulturell sehr homogenen Gesellschaft. Deren hochbeschleunigte Verwandlung in ­einen Schauplatz ökonomischer Globalisierung, kultureller, religiöser Vielfalt verstörte vielfach, verunsicherte, führte zu Abstoßungsreaktionen, die in den frühen 1990er Jahren eskalierten. Dass seinerzeit vor allem Jugendliche und junge Erwachsene an der Front der fremdenfeindlichen Ausfälle standen, weist in der Tat auf die DDR zurück, insbesondere auf deren letzte Dekade.

Um ihre Ablehnung des Staates, der alltäglichen Enge und Gängelung des Lebens unmissverständlich zu markieren, griffen Teile der Jüngeren zu radikalen Ausdrucksmitteln. Hooligans skandierten rassistische Slogans, verwüsteten Züge, prügelten sich mit Ordnungshütern. Andere richteten ihren Frust gegen linke Bands oder Umweltbewegte, staffierten sich mit NS-Symbolen aus und gerierten sich offen als „Faschos“. Die Ausschreitungen der frühen Umbruchjahre verweisen auf Wurzeln in der (späten) DDR. Aber je weiter man sich von dieser Zeit abstößt und auf die jüngere Gegenwart zubewegt, desto fragwürdiger wird diese Art der Zurechnung. Das Durchschnittsalter der heutigen Ostdeutschen liegt deutlich unter fünfzig Jahren. Die meisten haben den Großteil ihres Lebens unter den gewandelten Verhältnissen geführt, jene insbesondere, die ihre rechte, rechtsradikale Gesinnung auf die Straße tragen.

Der dreifache Fehler

Wer deren Einstellung und Haltung unbeirrt und exklusiv der DDR zuschreibt, begeht einen dreifachen Fehler: Er infantilisiert die im Osten lebenden Menschen, indem er die Erfahrungen, die sie seit 1989 sammelten, für irrelevant, zumindest nachrangig erklärt; so, als hätten die Umstände ihres Lebens nach der DDR keine seelischen Abdrücke hinterlassen. Er betrachtet, des Weiteren, das habituelle Erbe der DDR nicht in seiner Widersprüchlichkeit, vielmehr eindimensional als Handicap, Ballast, den es nun endlich abzuwerfen gilt. Schließlich rechtfertigt er, fast wie auf Bestellung, die Fehlentwicklungen, Ungerechtigkeiten, Kränkungen, die mit dem Umbruch einhergingen, zahllose Menschen aus der Bahn warfen, in Windeseile vom Citoyen zum Klienten des Sozialstaats degradierten. Die notorische Ausblendung der Nachwendegeschichte bei der Ergründung der Ursachen für die Rechtslastigkeit des ostdeutschen Wahlvolks ist interessengeleitet, ist pure Ideologie.

Zur Versachlichung der Debatte empfiehlt sich eine Weitung des Blickfelds. Rechtspopulistische Parteien befinden sich seit den 1980er Jahren weltweit auf dem Vormarsch. Rassemblement National in Frankreich, die FPÖ in Österreich, die Tea-Party-Bewegung in den Vereinigten Staaten, Ukip in Großbritannien, Figuren wie Marine Le Pen, Jörg Haider, Donald Trump, Boris Johnson mischten und mischen die politischen Machtverhältnisse in diesen Kernländern des Westens kräftig auf. Was diesen Umbruch bewirkte, war eine historische Zäsur – die Abkehr der Eliten vom sozialen Ausgleich zugunsten einer härteren, neoliberalen Gangart des ­Kapitalismus. Maximierung der Gewinne, Lohndruck, Abbau sozialer Rechte, flächendeckende Schließung von Unternehmen minderer Rentabilität, Auslagerung ganzer Branchen in Billiglohnländer, ökonomische Entblößung weiter Landstriche, Verfall der Infrastrukturen, des sozialen Zusammenhalts, wachsender Drogenkonsum, jäh ansteigende Kriminalität, fallende Immobilienpreise, nun sitzt man fest in diesem Elend, noch eben angesehen, Bürger unter Bürgern, jetzt abgehängt, im Stich gelassen, so ging das Jahr um Jahr. In allen vom Neoliberalismus umgegrabenen Gesellschaften herrscht mas­senhafte Wut. Die Neue Rechte, ihre Wortführer muss­­ten nur einsammeln, was im Unterbau, aber auch in der Mitte der Gesellschaft an Hoffnungen rücksichtslos zertreten worden war und nach Erlösung, nach Rache Ausschau hielt. Keiner von denen, die nach Rache dürsteten, hatte je auch nur einen Tag in einer Diktatur gelebt.

Dieses Szenario hielt auch im Osten Deutschlands nach 1990 Einzug, nur dass sich die Um- und Abbrüche hier auf wenige Jahre konzentrierten; ein wirtschaftlicher, sozialer, kultureller Kahlschlag ohne Anlaufzeit; eine große, kollektive Kränkung mit einer Tiefenwirkung, die erst zeitversetzt zum Tragen kam. Als sie im Maßstab von Millionen ihre Arbeit verloren, kam den Menschen im Osten sehr viel mehr abhanden als nur ihr Broterwerb. Hier waren die Betriebe Wirtschaftsunternehmen und zugleich Träger vielfältiger Einrichtungen, Leistungen, Angebote. Das alles fiel jetzt zusammen mit der Stelle weg und konnte auf kommunaler Ebene aufgrund klammer Kassen nicht ansatzweise ausgeglichen werden. Schlagartig prekär, verkümmerte das Leben auch in seinen nichtökonomischen Bezügen. Wer konnte, suchte das Weite. Und viele konnten, wollten, mussten, weil es so nicht weiterging. Ein unerhörter Aderlass gleich zu Beginn der 1990er Jahre, der an die unglücklichste Tradition der DDR als Auswanderungs- und Fluchtgesellschaft anschloss. Er dezimierte vor allem die Mitte der Gesellschaft. Ohnehin weit ärmer an ökonomischen Ressourcen als ihr westliches Pendant, kamen ihr bis in die Gegenwart fortlaufend auch die jeweils Jungen, Risikobereiten, Weltoffenen, gut Ausgebildeten abhanden, voran die jungen Frauen, was eine Vermännlichung der „Restgesellschaft“, deren Überalterung nach sich zog.

Repräsentanten, Anhänger und Mitläufer der Neuen Rechten treten umso selbstbewusster auf, als sie um die Stärke wissen, die ihnen aus der Schwäche von ostdeutscher Mittelschicht und Zivilgesellschaft erwächst. Je mehr von denen, die ihnen die Stirn bieten könnten, weggehen, desto ausschlaggebender wird ihr politisches Gewicht vor Ort, in Wahlkreisen und Kommunen. Das wiederum verleiht Menschen, die das schwer erträglich finden, den letzten Anstoß zur „Flucht“; ein Teufelskreis. Den letzten Zweifel an diesem Zusammenhang räumte das ebenso umfäng­liche wie detaillierte Dossier zur Ost-West-Wanderung im wiedervereinigten Deutschland aus, das Die Zeit in ihrer Ausgabe vom 2. Mai 2019 veröffentlichte. Je gravierender der Abgang, je strukturschwächer die Stadt oder der Landkreis, desto stärker färbt sich die politische Landschaft in der Farbe der AfD ein, das heißt blau, tiefblau zuweilen. Der Rekurs auf die DDR als Hort des Übels geht an dieser unbestreitbaren Korrelation kilometerweit vorbei.

Die Lehre aus diesem Dilemma ist einfach, jeder, der seinen Verstand gebraucht, kann sie verstehen. Ein derart umfassender und tiefgreifender gesellschaftlicher Umbruch, wie er sich im ­Osten Deutschlands nach 1990 vollzog, muss in allererster Linie die Ressourcen und die Kraft der einheimischen Bevölkerung stärken. Die schnell um sich greifende sozialökonomische Demobilisierung der Ostdeutschen war ein Unglück, das sich nicht hätte ereignen dürfen und dessen nun sichtbare Spätfolgen das ganze Land betreffen. Die Vita activa ist die Mutter der Demokratie, und dieser Geist, diese Haltung, dieses Mittun, in erster Reihe, aus eigenem Vermögen, kam in viel zu vielen Fällen zum Erliegen, kaum dass das Hauptwerk, die Eroberung der Demokratie, verrichtet war. Freiheitsgewinn und Freiheitsverlust gingen vielfach Hand in Hand. Der Boden, auf dem man sich bewegte, gab nach, und genau das untergrub die Identifizierung mit dem Rahmen, in dem man sich bewegte. Ohne Kenntnisnahme dieses Grundwiderspruchs wird die gesamte nachfolgende Entwicklung unverständlich.

Weder versteht man den harten Kampf um Selbstbehauptung in der ersten Hälfte der 1990er Jahre noch die aufkeimenden anti­demokratischen Affekte der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts, die sich bereits damals weit ungemütlicher hätten äußern können, wenn die Tränen der Enttäuschung und auch der Wut nicht auf den Kissen der parlamentarischen, demokratieaffinen Linken getrocknet wären. Spätestens seit der Flüchtlingskrise von 2015 litt dieses Zweckbündnis Schaden, ob dauerhaften, bleibt abzuwarten. Seither adressieren veritable Teile der Frustrierten und Verprellten ihren Protest an den rechten Gegenpol der politischen Landschaft. Nun schreiten sie zur Generalabrechnung mit dem „System“ und seinen Trägerschichten. Treuhandpolitik, Hartz-Gesetze, Bankenrettung, offene Grenzen für Flüchtlinge – alles über ihre Köpfe hinweg beschlossen und ins Werk gesetzt, „Schluss damit, jetzt reden wir“. Und mit einem Mal strömen Politiker, Journalisten, Wissenschaftler in den von ihnen so lange verschmähten Osten und ­wollen wissen, was da los ist. „Dann haben wir das doch richtig gemacht“, sagen sich die bis dato Abgeschriebenen. „Genau das war der Zweck unseres Radikalprotestes: die öffentliche Wahrnehmung unserer Lage, der Misere, die hier herrscht.“

Sie haben es nicht richtig gemacht; politische Kräfte gestärkt, die den Boden für Gewalt bereiten; der Terror in Halle, auf offener Straße, widerlegt sie brutal. Höchste Zeit zur Besinnung, zur Umkehr. Darüber wäre zu reden, ist zu reden, ohne Herab­lassung, ohne Bevormundung und also mit den Wählern vom rechten Rand. Es geht, wie die längste Zeit, seit je, auch über sie hinweg. Doch Vorsicht, jetzt erst recht: Rache ist Blutwurst.//

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