Gespräch
Was macht das Theater, Marcus Steinweg?
von Thomas Irmer und Marcus Steinweg
Erschienen in: Theater der Zeit: Bye, Bye, Europe (02/2019)
Assoziationen: Dossier: Was macht das Theater...?
In Ihrem Vortrag „Subjekt der Überstürzung“ von 2004, der für Ihre heutige Philosophie exemplarisch steht, beriefen Sie sich auf einige Denkbilder Heiner Müllers. Darunter die Aussage: „Solange eine Kraft blind ist, ist sie eine Kraft.“ Wie sehen Sie diese Äußerung Müllers heute?
Jeder, der künstlerisch tätig ist oder schreibt, weiß um die Blindheitsanteile seiner Tätigkeit. Indem Müller darauf insistiert, dass der Text klüger sei als der Autor, meint er auch, dass Blindheit zum Schreiben gehört, als Überstürzung, „kontrollierter Wahnsinn“. Nicht im Sinne irgendeiner Künstlerromantik oder eines Vulgärsurrealismus, sondern als tägliche Erfahrung – als Normalität – künstlerischer Produktion. Ebendies nenne ich Überstürzung, die ich auch fürs philosophische Denken reklamiere, eine Art präziser Kopflosigkeit, ohne die es kein Denken gibt. „Denken ohne Geländer“ hat Hannah Arendt es genannt. Das erfordert Risikobereitschaft, Öffnung aufs Unbestimmte. Wer diesen Mut nicht aufbringt, erschöpft sich im Buchstabieren des Bestehenden, reduziert sich zum Protokollanten der Macht. Kunst und Philosophie aber verbindet – Müller wusste das – Suspension von Realität. Es ist ein gesteigerter Realismus, den uns Müller lehrt: ein Realismus, der den etablierten Realitätsvorstellungen opponiert.
Diese Realitätsvorstellungen spielen ja auch in einem weiteren Zitat Heiner Müllers eine Rolle, auf das Sie Bezug nehmen: dass Kunst wesentlich –...