Theater der Zeit

Auftritt

Anhaltisches Theater Dessau: Erinnern ohne Pathos

„Was bleibt. Das Leben der Familie Cohn“ von Carolin Millner – Inszenierung Carolin Millner, Kostüm und Bühne Maylin Habig, Musik Jan Preißler

von Lara Wenzel

Assoziationen: Theaterkritiken Sachsen-Anhalt Carolin Millner Anhaltisches Theater Dessau

Maribel Dente in „Was bleibt. Das Leben der Familie Cohn“ am Anhaltischen Theater in Dessau.
Maribel Dente in „Was bleibt. Das Leben der Familie Cohn“ am Anhaltischen Theater in Dessau. Foto: Claudia Heysel

Anzeige

In kleinen Blechdosen verließen die Waren der Werke für Zucker- und chemische Industrie in Dessau die Lagerhallen. Während man im 19. Jahrhundert noch süße Köstlichkeiten in den Schachteln vermuten durfte, war es ab 1942 vor allem Zyklon B, das den Standort sicherte. Das Giftgas aus Blausäure lieferte die Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung nach Auschwitz. Dass die Blechdosen verklebt mit Haaren und Blut zurückkamen, habe niemanden stutzig gemacht. Über die Vernichtung von Juden und Jüdinnen will man in Dessau nicht sprechen, legen die dokumentarisch aneinandergereihten Zitate nahe. Doch während die Erinnerung an die Shoah klare Formen des „Gedächtnistheaters“ (Y. Michal Bodemann) und der Schuldabwehr kennt, scheint es für jüdische Geschichten jenseits von Opfer- oder Verschwörungserzählungen keinen Platz in der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu geben.

Ein leichtes Sujet ist die Biografie von Moritz Cohn und seiner Tochter Julie von Cohn-Oppenheim, die unter dem Titel „Was bleibt.“ inszeniert wurde, daher nicht. In der Zeit der Revolutionsbewegung 1948, als noch Pralinenkästen aus dem Dessauer Werk liefen, erreichte Moritz Cohn als Investor sogar die Position als Hofbankier am preußischen Hof. Als ‚reicher Jude‘ saß er zwischen den Stühlen. Er gehörte nicht mehr zur ärmeren jüdischen Gemeinde in Dessau, aber auch die gehobenen Kreise nahmen ihn nicht in den eigenen Reihen auf. Cohn konnte sich mit so vielen Orden schmücken, wie er wollte. Wenn darauf das Kreuz fehlte, das die richtige Konfession auszeichnete, waren sie wertlos, stellt seine Tochter Julie fest. Gekleidet in Grundrisse der alten Villa Cohn, entworfen von Maylin Habig, wechseln die vier Spieler:innen zwischen Rollen und Zeiten. Meistens stehen sie jedoch als Vater und Tochter auf der Bühne, die für das Jahrhundert eine ungewöhnlich enge Beziehung teilten.

Die Biografie der Familie wird in all ihren Ambivalenzen und Unwegsamkeiten in zitierendem Gestus vorgetragen. Häufig stehen die Figuren statisch beisammen und geben den dichten Text wieder. Diese Nüchternheit ist eine große Stärke der Inszenierung, denn sie verzichtet auf strategische Emotionalisierung und schafft Distanz zwischen Rollen und Schauspieler:innen, wie zwischen Gezeigtem und Publikum. So stellt der Schauspielstil einen Gegenpol zur Überwältigungsästhetik des Zeitgenossen Wagners dar, gegen dessen Antisemitismus und deutschem Leidens-Opern ein Diss-Track performt wird. Kleine Lieder lockern den historischen Stoff auf, der jedoch auch als historische Erzählung fesselt und mit der fehlenden Aufarbeitung der Dessauer nach 1945 angereichert ist.

In der Zeit, in der der Begriff Antisemitismus als positive Selbstbezeichnung von Judenhassern aufkam, sah sich Cohn zahlreicher Verleumdungen ausgesetzt. Weil die Anschuldigungen, dass er ein ‚raffgieriger Jude‘ sei, aus den Reihen der Märzrevolutionäre kam, blieb er auf Abstand zur Demokratiebewegung und der Monarchie verbunden. Dass dieses Motiv einer verkürzten Kapitalismuskritik strukturell von der Produktionsweise hervorgebracht wird, erklären die Spieler:innen sogar auf der Bühne. Die abstrakte Herrschaft des Kapitalverhältnisses, in der alle Menschen eingebunden sind, wird nach Moishe Postone im modernen Antisemitismus personifiziert. Statt die Struktur des Kapitalismus zu erfassen, die uns auch als einzelne Subjekte durchdringt, schiebt man die Schuld einzelnen, meist jüdischen Kapitalisten zu. Während vermeintlich gesellschaftskritische Inszenierung, wie „Tartuffe. Kapital und Ideologie“ von Volker Lösch, auf antisemitische Bilder des gierigen Kapitalisten zurückfallen, stellt sich Carolin Millner, dem nicht so leicht darstellbaren Abstrakten. Die Verwebung von Theorie, Ästhetik und Historie, die ihr auf der Bühne gelungen ist, verdient größten Applaus.

Erschienen am 6.12.2024

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Die „bunte Esse“, ein Wahrzeichen von Chemnitz
Alex Tatarsky in „The Future Is For/ Boating“ von Pat Oleszkos, kuratiert von ACOMPI für die Galerie David Peter Francis, Juni 2024, vor dem Lady Liberty Deli im St. George Terminal, Staten Island, New York