Theater der Zeit

Heiner Müller sprechen?

von Nikolaus Müller-Schöll

Erschienen in: Recherchen 69: Heiner Müller sprechen (11/2009)

Assoziationen: Wissenschaft Heiner Müller

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Wie spricht man Heiner Müllers Texte? Wie soll man mit ihrer Vielstimmigkeit wie auch ihrer provokativen Unspielbarkeit umgehen? Wie bleibt man im Sprechen (und in allem, was mit diesem Sprechen weiter verbunden ist – Zeit, Raum, szenische Einrichtung, also eine wie immer geartete Inszenierung) Müllers Radikalität treu – einer Radikalität, die sich nicht zuletzt darin äußert, dass Müller niemals für das Theater produziert hat, ohne zugleich das Theater aufzukündigen, also die Idee einer zeitlosen, ortlosen, ahistorischen Institution, die nicht weiter zu befragen sei?

Der vorliegende Band versammelt Texte, die auf unterschiedliche Weise auf diese zunächst vielleicht banal oder doch zumindest eher schlicht klingenden Fragen zu antworten versuchen. Hervorgegangen sind sie aus den Vorträgen und Workshop-Beiträgen eines Symposiums, das im Sommer 2008 vom Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen in Kooperation mit der Internationalen Heiner Müller Gesellschaft und der Université de Paris X, Nanterre, veranstaltet wurde. Drei Tage lang sollte im Kontext heutiger künstlerischer Arbeit und ihrer Reflexion in der Theorie neu über die Eigenart von Heiner Müllers Texten, ihre Sprache und ihre Inhalte nachgedacht werden. Erwünscht waren Beiträge von Experten zu Müllers Werk, von Theater-, Literatur- und Musikwissenschaftlern, Philosophen und Künstlern, außerdem Erfahrungsberichte, Workshops und öffentliche Diskussionen. Künstlerische Präsentationen von Studierenden der Angewandten Theaterwissenschaft, von Laurent Chétouane sowie ein Schau- und Hörraum boten die Gelegenheit, sich mit Schwierigkeiten und Möglichkeiten von Müllers Arbeiten auseinanderzusetzen, neue Ansätze des Umgangs mit Müller zu reflektieren und darüber vermittelt die Fragen, die seine Arbeit weiter stellt, neu zu diskutieren.

Mit Blick auf die unterschiedlichen Interessen und Erfahrungen der eingeladenen Künstler und Wissenschaftler hatten wir die folgenden Fragenkomplexe formuliert, auf welche die Beiträge des Symposiums reagierten:

Vom Text zur Bühne

Wie lassen sich Texte im Theater machen, die das Theater, wie es ist, nicht lediglich bedienen wollen, sondern es zugleich nach Maßgabe des Möglichen zu verändern trachten? Welchen Raum und welche Zeit brauchen diese Texte? Müller bezweifelte, dass seine Texte für ein Stadttheater gegenwärtigen Zuschnitts machbar sind und verwies dabei auf dessen institutionelle Verpflichtungen und Verflechtungen, dessen Orientierung am Publikumsinteresse und an Zuschauerzahlen sowie auf die Gewöhnung des Publikums an schnelle Konsumierbarkeit. Dagegen setzte er zum Beispiel einen am griechischen Theater orientierten Begriff des Theaters als Fest und einmaliges Ereignis. Immer wieder versuchten Arbeiten mit Müllers Texten diese Idee eines damit verbundenen anderen Theaters aufzugreifen. Inwiefern ließe sich daran heute – zumal angesichts einer Tendenz zur weiteren Ökonomisierung der Theater und zu ihrer Indienstnahme für Stadtmarketing und Standortpolitik – anknüpfen?

Erfahrungen mit Müllers Texten auf der Bühne

Wie wurden unterschiedliche Inszenierungen von Müllers Texten dem mit diesen Texten gesetzten Anspruch gerecht, speziell demjenigen, den er mit Brecht auf die Formel bringt: »Theater theatert alles ein, also muß man ständig dem Theater etwas in den Rachen schieben, was das Theater nicht verdauen kann.«? Lassen sich ausgehend von Müllers eigener theoretischer Reflexion des Theaters wie der Literatur und der Bildenden Kunst Inszenierungen mit Grund als besonders bemerkenswert hervorheben – zum Beispiel, weil sie, wie Müller sich ausdrückte, »Krebszellen einschießen oder jedenfalls in den Strukturen Bakterienkulturen anlegen«? Wie sahen konkrete Lösungen aus, und, aus Müllers Sicht wichtiger: Welche Probleme wurden dabei entdeckt? Wie hat die Auseinandersetzung mit Müllers Art des Schreibens das Sprechtheater und experimentelle Theaterformen, die von Müller ausgehend entwickelt wurden, verändert?

Theorien und Praktiken der Stimme im Ausgang von Müller-Inszenierungen

Wenn die Stimme, wie Müllers Theatertheorie nahelegt, nicht als bloß dienendes Element des Theaters zu begreifen ist – wie kann sie dann anders erscheinen? Wie lässt sich etwa, was in Müllers Insistenz auf dem gesprochenen Text als Musik und Klang angedeutet ist, ausgehend von Theorien der Stimme auf Begriffe bringen? Wie können einerseits szenische Praktiken, die auf ihre Weise die Stimmlichkeit der Stimme untersuchen, auf Begriffe gebracht werden? Wie können andererseits die Erkenntnisse einer solchen Erfahrung des Denkens mit der Stimme neuerlich im Theater aufs Spiel gesetzt werden?

Individuum, Nicht-Protagonist, asozialer Held und Chor

Die Infragestellung des bürgerlichen Theatermodells nimmt in Müllers Stücken nicht zuletzt die Gestalt eines Sprechens an, das nicht dasjenige von Individuen bzw. eines bürgerlichen Subjekts ist. Es stellen sich von hier aus dem Theater pragmatische wie grundsätzliche Fragen: Wie kann ein Stück gespielt werden, in dem eine Unzahl von Spielern, zum Teil mit nur wenigen Sätzen, ja nur kurzen Einwürfen auftaucht und wieder verschwindet? (LOHNDRÜCKER) Wie lässt sich mit den Chören in Müllers Stücken umgehen? (HORATIER, MAUSER, HAMLETMASCHINE, WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE) Wie soll mit Texten verfahren werden, die zunehmend weniger sprechenden Figuren zugeordnet sind? (VERKOMMENES UFER, BILDBESCHREIBUNG, HERAKLES 2, HAMLETMASCHINE) Wie kann sich das heutige Theater allegorischen Figuren nähern, die nicht unbedingt mit menschlicher Stimme vorzustellen sind (Tiere, Engel, Fabelwesen in GLÜCKSGOTT, AUFTRAG u. a.)? Wie kann das Sprechen derer vorgestellt werden, die sich vor allem dadurch auszeichnen, dass sie keine Stimme haben, keine Sprache, keinen Ausdruck – des »Proletariats« oder »Prekariats«? (DIE UMSIEDLERIN, TRAKTOR u. a.) Wie leiht man historischen Figuren – Marx, Hitler, Stalin … – eine Stimme, die die Differenz des Spielers zu ihnen nicht verbirgt? (GUNDLING, GERMANIA TOD, GERMANIA 3)

Müllers Texte in unterschiedlichen Übersetzungen

Wo die Sprache von Texten nicht nur von ihrem Inhalt her begriffen und »verstanden« wird, da stellt sich die Übersetzung als eine beständig mit ihrer eigenen Grenze konfrontierte Aufgabe dar: Soll der Text der Übersetzung den Inhalt der Vorlage wiedergeben oder vielmehr deren Rhythmus, ihre Gesten, ihren Duktus oder Stil? Soll Verssprache in neuerliche Verssprache, sollen Reime als solche übersetzt werden und wie ist im Zweifelsfall zwischen Bühnenwirksamkeit und der sogenannten Texttreue zu entscheiden, etc. Müllers eigener Beobachtung zufolge sind die Texte etwa in der französischen Übersetzung rhetorischer: Der Text löst sich vom Sinn, entwickelt eine Eigendynamik, die – in klassischen Begriffen ausgedrückt – eher formaler als stofflicher Art ist. In anderen Sprachen tauchen Schwierigkeiten anderer Art auf: Unübersetzbare Worte, neuer Nebensinn und -unsinn. Ausgehend von Übersetzungstheorien, die an der Übersetzung eher deren Unmöglichkeit als deren pragmatische Machbarkeit in den Blick nehmen (Benjamin, Derrida), wäre nicht zuletzt danach zu fragen, was die Schwierigkeiten der Übersetzung über die Eigenart wie Fremdheit der »Originale« verraten.

Versuche mit dem Sprechen Müllers zwischen Geräusch und Musik

Müllers Texte wurden in besonderem Maß zum Ausgangspunkt von Umsetzungen, die sich nicht im traditionellen Sinne als ihre Inszenierung betrachteten – von Performances, Kompositionen, Installationen und Hörspielen. Wie wenige andere zeitgenössische Autoren hat Müller zeitgenössische Komponisten und Musiker inspiriert, fasziniert und zur künstlerischen Auseinandersetzung animiert. Welcher Art ist dabei die Übertragung von Texträumen in Klangräume? Was wird hier über die nicht oder anders sinntragenden Schichten der Sprache Müllers erfahrbar?

Im Verlauf des Symposiums wurde schnell klar, dass die Beiträge zum Teil zu mehreren der vorgeschlagenen Punkte Stellung bezogen, zum Teil auch ausgehend vom Thema eigene Fragestellungen entwickelten. Dem trägt die Einteilung der Kapitel dieses Bandes Rechnung. In allen Teilen stehen Erfahrungsberichte von der Arbeit mit Müllers Texten – auf der Bühne oder im Tonstudio – neben Lektüren, die von den Texten und den in ihnen angelegten Herausforderungen für Deutung wie stimmliche Interpretation ausgehen, Analysen, die einzelne Aspekte vertiefen, und Auseinandersetzungen mit einzelnen, besonders markanten Theater-, Tanz-, Performance- oder Hörspiel-Inszenierungen. Die beigefügte CD dokumentiert die öffentliche Lesung einiger Texte Müllers durch Josef Bierbichler. Das im Band transkribierte Gespräch mit ihm vermittelt eine Vorstellung vom Rahmen, in dem diese Lesung stattfand.

Am Zustandekommen des Symposiums wie auch dieses Bandes waren viele Institutionen und Einzelpersonen beteiligt, denen an dieser Stelle zu danken ist: Für ihre großzügige finanzielle und ideelle Unterstützung danken wir der Kulturstiftung des Bundes, der Hessischen Theaterakademie, dem Kulturamt der Stadt Gießen, dem Zentrum für Medien und Interaktivität sowie dem Präsidium der Justus-Liebig- Universität Gießen. Unser besonderer Dank gilt daneben den studentischen Mitarbeitern bei der Organisation, Fanny Frohnmeyer und Frank Müller, außerdem Anna Teuwen, die uns beim Lektorat des vorliegenden Bandes tatkräftig und zuverlässig unterstützt hat. Christian Fleißner ist für seine technische Unterstützung bei der Aufnahme und Postproduktion des Gesprächs mit Josef Bierbichler zu danken.

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