Theater der Zeit

Magazin

Erweiterte Realitäten

Eindrücke vom Kunstfest Weimar, das eine „Sehnsucht nach morgen“ beschwor

von Michael Helbing

Erschienen in: Theater der Zeit: Der Untergang des russischen Theaters (10/2022)

Assoziationen: Thüringen Theaterkritiken

Das Anthropozän im Schlepptau: Thomas Köcks „Solastalgia" beim Kunstfest Weimar. Foto Robert Schittko
Das Anthropozän im Schlepptau: Thomas Köcks „Solastalgia" beim Kunstfest Weimar.Foto: Robert Schittko

Anzeige

Anzeige

Das Kunstfest Weimar schmeißt mit großen Steinen. Die Brocken fliegen uns (und ihm) um die Ohren, in einer alten verlassenen Fabrikhalle am Stadtrand, die in unregelmäßigen Abständen zum Veranstaltungsort dieses Festivals aller zeitgenössischen Künste wird. Deren trostlose Alltagsrealität haben sie nun erweitert: Mit Augmented-Reality-Brillen vor Augen sehen wir sie verschwommen und in Schwarz-Weiß, wir sehen darin zwei Schauspieler kurz agieren sowie andere Besucher und auch uns selbst, sofern wir an uns herunterschauen oder die Hände vor die Brille halten.

Gestochen scharf, mitunter grünlich leuchtend, zieht ein Schwarm virtuellen Gesteins vorüber, dessen Flugbahn sich individuell beeinflussen lässt. Ausgelöst hat ihn, so die Erzählung einer klimafiktionalen Endzeitgeschichte von Kate Story, ein Erdbeben in den Tablelands auf Neufundland.

Dorthin verschlägt es Daniel und Laurie, ein Paar als Zwangsgemeinschaft. Sie trauert ihrem Mann nach, der sie verließ, er überfuhr unter Drogen einen Jungen. Zwei Einsame und Verlassene auf Camping-­Ausflug zu zweit, den die Flucht vor Folgen der Klimakatastrophe verursachte.

Die Schauspieler Judith Rosmair und Steve Karier führen uns in einer wie improvisiert wirkenden szenischen Lesung unterm Zeltdach darin ein, bevor sie uns in die und durch die zum Nationalpark erklärte Halle führen, wo wir, alle verbunden durch eine Hand am Seil, eine Wanderung beginnen.

Aufs Ohr kriegen wir zwischendrin Szenen aus einem parallel für Deutschlandfunk Kultur produzierten „3D-Hörspiel“, das Rosmair und Karier einsprachen. Hier vor Ort ist ihre Geschichte Mittel zum Zweck: um eine künftige, noch im Stadium des Experimentierens befindliche Technologie des Erzählens zu präsentieren. Der Inhalt folgt dabei der Form, so gut es eben geht.

Der Multimedia-Künstler und Regisseur Chris Salter (Montreal/Zürich) erlaubt uns in „Animate“, für insgesamt eine halbe Million Euro produziert, durch die Brille einen Blick in die mögliche Zukunft des Theaters. Es ist ein bisschen so, als kehrten wir zu den Anfängen der Videospiele zurück, allerdings im Wissen darum, was daraus wurde. Das lässt sich an „Animate“ entsprechend hochrechnen.

Dessen Rechenleistung jedoch erwies sich einstweilen als akutes Problem und „Kalibrierung“ als verfluchtes Zauberwort. Die Halle war dafür zu groß, die Zahl der geplanten jeweils zwölf Zuschauer musste halbiert werden. Und nicht wenige von denen wähnten, ihre AR-Brille sei wohl defekt.

Das befeuerte einerseits jene „Sehnsucht nach morgen“, der sich das Kunstfest diesmal insgesamt zweieinhalb Spätsommerwochen lang verschrieben hatte (mit 17 Ur- oder Erstaufführungen sowie 140 einzelnen Veranstaltungen aller Sparten und Genres). Diese Sehnsucht konnte einem andererseits aber auch vergehen. Zumal Judith Rosmair erst im vergangenen Jahr in Weimar „Bye Bye Bühne“ rief, in einem immersiven 360°-Virtual-Reality-Projekt, in dem sie, einsam und verlassen, der Unmittelbarkeit des Theaters nachtrauerte.

Dass nun ausgerechnet ein Kritiker beim Ko-Produzenten Deutschlandfunk Kultur mutmaßte, „Animate“ sei „sicherlich nicht ,state of the art‘“, veranlasste das Kunstfest zur Gegendarstellung; wegen falscher Tatsachenbehauptung prüfe man sogar rechtliche Schritte, hieß es.

Dabei scheint jene Mutmaßung gar nicht so unbegründet zu sein, wie ein Vergleich mit der AR-Tanzperformance „Du musst Dein Leben rendern!“ nahelegt, die NICO AND THE NAVIGATORS jetzt in Berlin zeigten (TdZ 9/2022) – gerade, was die Interaktion realer Darsteller mit dem Virtuellen betrifft.

Rosmair und Karier sind real existierende feste Größen im Kunstfest, wie es Rolf C. Hemke seit 2019 kuratiert. Rosmair spielte hier auch schon Theresia Walsers Monolog „Endlose Aussicht“ über eine Kreuzfahrt in die Quarantäne. Karier trat zuletzt in partizipativen Theatersoli in ganz Thüringen auf.

Letzteres hat diesmal der in beziehungsweise bei Weimar heimisch gewordene Schauspieler Dominique Horwitz übernommen. Er tourte mit Mauricio Kagels „Der Tribun“ durchs Land, einem musikalischen Sprechtext von 1979, für einen Redner, zwei Lautsprecher und „Zehn Märsche, um den Sieg zu verfehlen“. Konzertant trat er damit bereits im April mit neun Berliner Philharmonikern auf. Nun wurde daraus fürs Kunstfest ein kurzes Theatersolo zu Despotismus und Demagogie, denen das Festival neben dem Klimawandel einen seiner stärkeren Erzählstränge widmete.

Der ins Absurde gewendete Prototyp eines Autokraten übt hier seine Rede ans Volk; skurrile Marschmusik sowie jubelnde und applaudierende Massen werden eingespielt. Wie ein garstiger Clown bläht sich diese Horwitz-Figur zum schwarzen Messias auf, zum strengen, aber allsorgenden Schöpfer und Vater der Nation. Er probiert Haltungen wie Masken an und aus, übt den Sound des vorgetäuschten Argumentierens ein mit sich widersprechenden, aufhebenden, in Nonsens gleitenden Phrasen wie: „Die Politik wird ganz oben gemacht, weil sie ganz unten gebraucht wird.“

Er redet viel, sagt wenig. Ein Führer und Verführer im Rausch- und im Erschöpfungszustand, der brüllt, poltert, in wirres Lachen ausbricht. Der Tribun entblößt sich vor uns, sinnbildlich und buchstäblich. Horwitz und sein Regisseur Torsten Fischer sezieren die Figur: Hier führt sich einer auf, führt sich einer vor. Sie streuen Zweifel an ihrer Zurechnungsfähigkeit. Zweifel an den Zweifeln streuen sie nicht. Wir sind interessiert und irritiert, unterschwellig amüsiert, zu keiner Zeit gefährdet. Nach der Dreiviertelstunde erreicht der Abend sein eigentliches Ziel: intensive Publikumsgespräche.

Der Despoten-Karikatur par excellence nähert sich unterdessen Robert Wilson neu: Alfred Jarrys „König Ubu“. Wilson überschreibt gleichsam eine auf die Franco-Diktatur gemünzte Fassung, die Joan Baixas und La Claca 1978 mit überlebensgroßen Marionetten Mirós auf La Palma zeigten. Ebendort feiert diesen Oktober Wilsons Annäherung Premiere, bevor sie nächsten August nach Weimar kommt. Aktuell präsentierte die Kunstfest-Ausstellung „Personae. Máscaras contra la barbarie“ vier Repliken, die Baixas von den Puppen anfertigte. Dazu lief Wilsons Klangcollage „Ubu sounds the alarm“: englischsprachige Dialoge aus Jarrys Stück zu skurrilen Klängen und Geräuschen einer immer mehr Fahrt aufnehmenden Spritztour in den unbeschwerten Horror. Es klingelt, es hupt, es knallt darin aufs Heiterste.

Unterdessen singt sich andernorts Jago aus Verdis „Otello“ in Donald Trump hinein: „Dich treibt dein Dämon, und dein Dämon bin ich!“ Wagners Erda aus dem „Rheingold“ beschwört Putin: „Weiche, Wotan, weiche!“ Wir sind bei „Aria di Potenza“, einer szenischen Collage, in der Krystian Lada Diven der Oper und der Politik gegeneinander antreten lässt: Heldenbaritonistin Lucia Lucas, Mezzosopranistin Małgorzata Walewska und Sopranist Théo Imart konterkarieren und kommentieren mit bekannten Arien eingespielte Politikerreden, während auf vier hohen Techniktürmen Verfolger um sie kreisen. Eine Idee mit großem Potenzial, ohne Dramaturgie. Hat man es verstanden, zieht es sich neunzig endlose Minuten hin, bei nachlassendem Interesse. Alles mündet erwartbar in der Götterdämmerung.

Erstaunlich kurze siebzig Minuten währt die schmerzverzerrte Schocktherapie, die Angélica Liddell mit ihrem neuen krassen und durchaus faszinierenden Bilderreigen „Terebrante“ zu provozieren beabsichtigt – was bei ihr selbst womöglich besser funktioniert als beim spärlichen Festivalpublikum. Gänzlich unfolkloristisch, ohne einen Hauch entsprechender Musik, greift die Katalanin in die Flamenco-Seele andalusischer Roma, ­begleitet von solchen Zitaten des Sängers Agujetas (1933–2015) wie: „Der, der am besten singt, hat die meisten Qualen erlebt.“

Ihre unergründlichen Qualen übersetzt Liddell unter anderem in Qualm: aus einer brennenden Zigarette im Hintern und in der Scheide. Sie fährt mit dem Fahrrad an einer Videowand vorüber, auf der einem Oberkiefer sämtliche Zähne gezogen werden. Sie kippt sich flaschenweise Bier, Wein, Gin über den geschundenen Körper und kündet von der unerfüllt bleibenden Todessehnsucht, es möge kein Morgen geben.

Da hält Thomas Köck eine für sie gewiss tröstliche Nachricht bereit: „Wir werden verschwinden“ prophezeit uns sein neues Stück, dessen Uraufführung er, in Kooperation mit dem Schauspiel Frankfurt, in Weimar höchstpersönlich inszenierte. „Solastalgia“ nennt er seinen eher undramatischen Text zum aktuellen Menschheitsdrama, das er in eine monologisierende Verserzählung packt, in der eine(r) diverse Stimmen aus jüngster Vergangenheit hört. Mit drei Schauspielerinnen (Miriam Schiweck, Mateja Meded, Katharina Lindner) ­arrangiert er das als rhythmisches Sprech­theater, zu dem drei Musikerinnen an Oboe, Klarinette und Horn Endzeitklänge Andreas Spechtls beitragen. Mit seinem Text, der mit unvollendeten Sätzen und ungewöhnlichen Betonungen spielt, betrauert Köck das unausweichliche Sterben der Menschheit, gibt sich darüber teilweise aber auch belustigt.

Adressat und Ankerpunkt der Trauer ist der (deutsche) Wald, monokulturell zum verwertbaren „Ökosystem-Dienstleister“ heruntergewirtschaftet. Die zwischen Antike und Futurismus schwankende Bühne von Barbara Ehnes verortet in einem Halbrund 65 aus Pilzmyzel entwickelte Platten. Deren Raum nutzt Köck nur ansatzweise, die Zwischenräume seines Texts stellt er meistens zu. Köck, der Regisseur, erweitert die Realität ganz analog. Rhythmus und Sound sind seine Technologie. Doch auch hier rennt der Inhalt der Form hinterher – als ob es kein Morgen gäbe. //

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Charly Hübner Buch backstage
Cover XYZ Jahrbuch 2023
Recherchen 162 "WAR SCHÖN. KANN WEG …"
"Scène 23"
"Zwischen Zwingli und Zukunft"
Recherchen 165 "#CoronaTheater"
"Die Passion hinter dem Spiel"
Arbeitsbuch 31 "Circus in flux"
"Passion Play Oberammergau 2022"
Recherchen 163 "Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny  im Spiegel von Mythos und Religion"
Passionsspiele Oberammergau 2022
"Theater der Vereinnahmung"
Recherchen 156 "Ästhetiken der Intervention"
"Theater unser"
"Pledge and Play"