Auftritt
Essen: Recht auf Rettung?
Schauspiel Essen: „Umständliche Rettung“ (UA) von Martina Clavadetscher. Regie Thomas Ladwig, Ausstattung Martina Stoian
von Lisa Kerlin
Erschienen in: Theater der Zeit: Schauspiel Leipzig – Martin Linzer Theaterpreis 2017 (06/2017)
Assoziationen: Schauspiel Essen
Eines Tages wird die Katastrophe über uns hereinbrechen. Und sie wird gnadenlos, biblisch, apokalyptisch sein. Feuerbälle werden auf uns niederprasseln, niemanden verschonen. Nur jene Anständigen und Rechtschaffenen, die von einem Engel auserwählt werden: Sie werden in letzter Sekunde gerettet. Davon ist die Erzählerin Baganja (Jaëla Carlina Probst) im Stück „Umständliche Rettung“ bedingungslos überzeugt. Mit der Muttermilch hat sie diese Ansicht aufgesogen — hat doch ihre Mutter das Erbe des väterlichen, millionenschweren Unternehmens „Sahur Industry“ ausgeschlagen, um nicht im kapitalistischen Sumpf der fiktiven Stadt Sodiriya unterzugehen. „Scharfsinnig“ nennt Baganja diese vorausschauende Entscheidung ihrer Mutter, die lieber eine zufriedene Hure war, als sich vom stinkenden Moloch verpesten zu lassen. Baganja tritt in ihre Fußstapfen, stets wachsam, damit sie den Engel, der selbstverständlich sie selbst zur Rettung auswählen wird, nicht verpasst.
Die Autorin Martina Clavadetscher gewann mit ihrem Stück „Umständliche Rettung“ 2016 die 4. Essener Autorentage „Stück auf“. Nun wurde ihr dichtes und einfallsreiches Werk in der Casa in Essen uraufgeführt. In ihrem Theatertext wechseln sich schnelle, zackige Dialoge und innere Monologe ab. Ihre Sprache ist heutig und direkt, doch immer wieder ergeben sich kleine, poetische Momente. Den größten Redeanteil hat die Figur der Baganja, die als außenstehende Erzählerin und innerer Motor der Geschichte funktioniert.
Die Handlung orientiert sich am 1. Buch Mose, an Lots Rettung aus der verdorbenen Stadt Sodom. Auch Sodiriya ist vergiftet von Verschwendungssucht und Egoismus. Auch hier würden die zwei Engel aus der biblischen Geschichte, die Sodom besuchen, nur mit Mühe einen guten Menschen aufspüren. „Umständliche Rettung“ bedient sich dieses Grundplots – Clavadetscher schichtet die Figuren und ihre Anliegen jedoch um und verwischt die Grenzen zwischen Gut und Böse. Damit macht sie die Figuren interessanter und spitzt zu, was schon in der Lot-Geschichte angelegt ist: Zwischen den beiden Enden des moralischen Spektrums gibt es alle möglichen Schattierungen von Grau.
Als die deutsche Wissenschaftlerin Yamila (Sylvia Weiskopf) in Sodiriya auftaucht, hält Baganja sie für den rettenden Engel. Und dass, obwohl die Biologin sich weder für die Menschen interessiert, noch irgendwie zur Metaphysik neigt. Baganja entwickelt diese fixe Idee einzig aus dem Fakt, dass Yamila immer wieder auf ihren schmierigen, kriminellen Nachbarn El-Arad (Jan Pröhl) trifft. Diese Treffen können doch kein Zufall sein, und Baganja sieht ihr eigenes Recht auf Rettung bedroht. Leidenschaftlicher Neid auf El-Arad wirft einen Schatten auf ihre saubere Moralweste. Sie zerrt beide vor einen Untersuchungsrichter (Jens Winterstein), der den Irrtum aufklären soll. War nicht immer sie die Beste im Gutsein? Was ist mit der Moral? Aber weder sind Baganja noch El-Arad Lot, und Yamila kein Engel. Oder vielleicht doch? Wenn sie es sich nur oft genug zuschrieben?
Leider nimmt das Essener Team um Re- gisseur Thomas Ladwig die gedanklichen und szenischen Einladungen des Textes nicht an. Es geht zu vorsichtig mit ihm um. Obwohl Sodiriya eine krankhaft üppige Stadt ist, die aus allen Nähten platzt, hat sich die Bühnenbildnerin Martina Stoian für ein karges Bühnenbild entschieden. Links ein Schreibtisch, in der Mitte graue Kissen, die wie eine Steintreppe aussehen sollen, in den Ecken Deko-Moos, das den Verfall der Stadt symbolisiert. Man wünscht sich mehr Spielmöglichkeiten für das Ensemble, das in diesem Raum verloren wirkt. Einzig das „Zelt“ Yamilas, eine Art Hängematte, die von der Decke hängt, bietet Abwechslung und kann beispielsweise auch zu Engelsflügeln umgenutzt werden.
Das Stück ist sehr dicht geschrieben, lässt aber dennoch Raum für Fragen, eigene Gedanken und Fantasie. Dass Baganja immer wieder verzweifelt auf die Unabdingbarkeit ihrer Moral pocht, macht umso schmerzhafter klar, dass es letztendlich keine eindeutige Moral gibt. Weder im Stück noch in der sogenannten Realität. Doch dazu lässt sich in der Inszenierung keine eigene These erkennen. Ladwigs Inszenierung geht zu wenig Risiko ein und erstickt so die Offenheit des Textes. //