Report
Fast Forward: Schau junger Theaterideen, kein Trendsetter
Frei von Corona-Auflagen fand das Dresdner Fast Forward Festival zu inspirierender Atmosphäre und wachem Live-Publikum zurück
von Michael Bartsch
Erschienen in: Theater der Zeit: Bühne & Film – Superstar aus Neustrelitz (01/2023)
Assoziationen: Theaterkritiken Sachsen

Die Vergaberichtung des Publikumspreises beim diesjährigen Fast Forward Festival junger europäischer Regie hätte man auch umkehren können. Das Publikum selbst hätte einen Preis verdient. Das oft als bräsig geltende Dresden hat also auch ein Potenzial junger und kompetenter Theatergänger aufzuweisen! Gefühlt lag ihr Altersdurchschnitt unter 30 Jahren. Sie füllten nicht nur in erfreulicher Zahl die Säle des Kleinen Staatsschauspiel-Hauses oder des Festspielhauses Hellerau. Auch ihre Gespräche zeugten von erstaunlicher Kenntnis und Leidenschaft, folglich von Risikobereitschaft und Urteilsvermögen. Denn in Hellerau gab es auch eine Abstimmung mit den Füßen. Der Schwund betraf den schwedischen Beitrag „Mute Compulsion“ von Karl Sjölund. An sich eine hübsche Idee, mangels Ressourcen mit der Abschlussarbeit seiner Regieausbildung auf Low-Budget-Improtheater auszuweichen. Aber dieser Impetus verlor sich zunehmend in kaum noch dechiffrierbaren kryptischen Sphären.
Man kann darüber spekulieren, ob diese Präsenz hoffnungweckenden Publikumsnachwuchses den äußerlich günstigen Umständen zuzuschreiben ist. Nicht denen der bedrohlichen Weltlage, die zumindest indirekt auch in dieses Festival hineinwirkte. Kuratorin Charlotte Orti von Havranek sprach bei der Eröffnung denn auch von den „alten Illusionen, die als dünnes Brett über den Katastrophen dieser Welt liegen“. Aber ihre Sichtung von mehr als 200 Inszenierungen in ganz Europa hat sich nach zwei Jahren der Pandemie-Provisorien insofern besonders gelohnt, als alle acht Wertungsbeiträge endlich wieder live und in Festivalatmosphäre zu sehen waren. Für den konfliktfreien Ablauf dieser vier Tage gab es zum Abschluss am 13. November langen Applaus.
Den Publikumspreis erhielt an diesem Abend aber nicht das Publikum, sondern der Deutschspanier Marc Villanueva Mir für sein Mitmachspiel „El Candidato“. Der Theater- und Literaturwissenschaftler hat ein politisches Strategiespiel weiterentwickelt, das 1968 in Frankreich als „Djambi“ oder „Machiavellis Schachbrett“ bekannt wurde. In das Zimmertheater des Dresdner „Hole of Fame“ passen zwar nur drei Spieltische zu je acht Personen. Aber die geistreich-ironische Spielleitung ließ das Votum schon erwarten.
Vier Parteien streben im Spiel nicht einmal zuerst nach der Macht, sondern nach der Vernichtung ihrer Gegner. Auf schachbrettartig gemusterten Pflastersteinen ziehen Spitzenkandidat oder -kandidatin, Provokateur, Journalist, Totengräber und „Parteisoldaten“ gegeneinander. Für ihre erfolgreiche Liquidierung gibt es einen Belohnungsschnaps von der Theke. Politische Bildung der makabren Art.
Fast Forward hat sich nie an enge Genregrenzen gehalten. Auch die diesjährigen Hauptpreisträgerinnen, fünf vehemente junge Damen aus Litauen mit der kaum 29-jährigen Regisseurin Laura Kutkaité, verbinden Klassik, Kabarett, Show und biografische Berichte. Den antiken Sirenen entgehen bekanntlich nur Orpheus und Odysseus. Mit der homerischen Urrolle der Verführerinnen steigt eine Vierergruppe zunächst auch ein und transportiert sie ins Milieu von Theater und Film. Männer morden sie allerdings nicht, sondern verfallen unmerklich und schließlich drastisch geschildet in die Kehrseite der Wirkung auf das vermeintlich „starke Geschlecht“, in die Opferrolle, ins titelgebende „Silence of the Sirens“.
Anfangs lacht man noch über satirische Klagen über Selbstausbeutung und karge Honorare, ja über künstlerische Prostitution am Theater oder am Set, über Sätze wie „Im Theater gibt´s kein Geld“. Erst allmählich begreift man, dass sich darunter immer alarmierender die „Me-Too-Problematik” mischt. Später so bestürzend, dass einige junge Frauen die Vorstellung verlassen. Besoffene Dozenten schon an der Hochschule, dann demütigende Castings, schließlich sexuelle Übergriffe. Die Umkehrung der Sirenensage, ein frauenmordendes Männerfeindbild, und prompt mischt sich wohlinszeniert eine weibliche Kontrastimme aus dem Publikum ein. „Wie soll ein Regisseur arbeiten, wenn er Schauspielerinnen nicht anfassen darf?“
Erstaunlich, dass die erstmals tätige fünfköpfige Jugendjury ausgerechnet den vielleicht sensibelsten, introvertiertesten Festivalbeitrag favorisierte. Der belgische Beitag „La fracture“ ist eine Soloperformance von und mit Yasmine Yahiatène, die sich mit der Diagonalbeziehung zu ihrem Vater auseinandersetzt. Sie zeichnet dabei beeindruckend und bearbeitet diese Bilder elektronisch.
Fast Forward steht synonym für Vielfalt und Breite, weniger für eine Richtung, einen identifizierbaren Trend. Nach eigenem Bekunden stand deshalb die Jury einmal mehr vor der Aufgabe, Unvergleichbares vergleichen zu müssen. So kann man bedauern, dass zwei musikdominierte starke Beiträge ohne Preis blieben. Zum Auftakt verblüffte ein sechsköpfiges ungarisches Vokalensemble in weißer Tenniskleidung vor der Kulisse des Budapester Nepstadions. 1953 als kommunistisches Volksstadion erbaut, wurde es 2019 im chauvinistischen Geist der Fides und Viktor Orbans rekonstruiert. Sprüche von damals werden denen von heute gegenübergestellt und offenbaren bestürzende Analogien. Archaisch anmutende Kompositionen von Máté Szigeti transportieren diesen Vergleich auf die Ebene des Vokalgesangs. „Jetzt ist das Lied eine dröhnende Waffe“, hieß es damals wie heute. Scheinbar unbewegt tragen die ausgezeichneten Sänger diese Lieder vor und erhöhen damit die parodistische wie auch alarmierende Wirkung.
Ausgerechnet aus dem moskautreuen Serbien kam schließlich eine überwältigende Hommage an die mit nur 27 Jahren vom Heroin getötete Woodstock-Ikone Janis Joplin. Bei Tijana Grumic ist sie als Doppelfigur angelegt, schizophren zunächst, im Selbstfindungsprozess, schließlich mit dem Alter Ego vereinigt. Die acht Mitwirkenden spielen die Geschichte und faszinieren ebenso als Musiker, voran die beiden Sängerinnen, zwischen Intimität und exzessivem Schrei nach Liebe. Phänomenal der linkshändige Gitarrist, der ebenso am Stagepiano brilliert. Das zu deutsche Publikum brauchte hier ausnahmsweise lange, bis es sich mitreißen ließ.
Insgesamt eine Schau origineller Ideen aus dem alten Europa, die nach der Pandemie zu früherer Inspiration und Ausstrahlung zurückgefunden hat. Nun darf man gespannt sein, welche Belohnungsinszenierung am Dresdner Staatsschauspiel Preisträgerin Laura Kutkaité in der nächsten Spielzeit präsentieren wird.