Theater der Zeit

Editorial

Stoff, Inhalt, Form

von Fritz Erpenbeck

Erschienen in: Theater der Zeit: Stoff, Inhalt, Form (08/1946)

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Diese Blätter wollen mithelfen, daß wir wieder zu einer wahrhaft großen, echten dramatischen Dichtung kommen. Das kann mit den Mitteln einer Zeitschrift nur geschehen, indem immer wieder geduldig verschüttete Kraftströme bloßgelegt, begangene Irrwege kritisch als solche nachgewiesen, vernebelte und verfälschte Begriffe geklärt, alte Kunstgesetze auf heutige Geltung geprüft und neue gesucht werden. Für jeden, der sich, wenn auch nur flüchtig, mit der Geschichte der Kunst beschäftigt hat, ist dabei von vornherein eines gewiß: das Neue fällt nicht vom Himmel. Wer sich der Hoffnung hingibt, daß eines Tages irgendwo ein Genie auftreten werde, das, alles Bisherige kühn über den Haufen rennend, uns ein neues Drama, das neue Drama schenkt - der glaubt an Märchen. Solche Märchen sind allerdings in einer gewissen Art von "Kunstgeschichte" gang und gäbe, Märchen, in denen beispielsweise William Shakespeare nicht als genialer Fortsetzer des Werks seiner unmittelbaren und mittelbaren Vorläufer und zugleich als genialer Vollender des Werks recht bedeutender Zeitgenossen dargestellt wird, sondern als wundersamer Vogel, der nicht einmal wie der Phönix aus der Asche, sondern aus einem Nebel genialer Gefühle und unerklärbarer schöpferischer Einfälle aufstieg.

Wir halten es, entgegen solchen Auffassungen, lieber mit G. E. Lessing, der Shakespeares scheinbare Formzertrümmerung, seine scheinbar völlige Formlosigkeit gegenüber der klassischen Form der Alten und dem ausgehöhlten Klassizismus der damaligen höfischen Dramatik deshalb als echte neue Form erkennen und sinnvoll erklären konnte, weil er bei seinen Untersuchungen nicht von der Form als dem Primären, sondern vom dramatischen Inhalt ausging.

Dramatischer Inhalt heißt menschlicher Inhalt. Menschlicher Inhalt heißt gesellschaftlicher Inhalt. Deshalb wird jede Gesellschaftsordnung - und innerhalb dieser wieder jede markante Epoche - ihren eigenen Stil, die ihr gemäße dramatische Form entwickeln. lri Übergangszeiten werden die Formen äußerlich immer "vollendeter", dabei hohler und schließlich zu inhaltlosem, letztlich unkünstlerischem Selbstzweck werden. In Umsturzzeiten wird die radikale und die scheinradikale Zertrümmerung bestehender Formen stets wieder ihren Ausgleich suchen, einerseits in sinnvoller wie sinnloser Aufnahme von Altem und - durch einzelne starke Persönlichkeiten, die aber nicht notwendig auch die stärksten Talente zu sein brauchen - in unbeirrter Weiterentwicklung von Ererbtem; anderseits - und hier berühren sich die Extreme - in willkürlichen, zusammenhanglosen scheinradikalen Formexperimenten.

Für unsere Untersuchung ist belanglos, inwieweit sich dabei die Künstler ihres Tuns subjektiv bewußt sind. Entscheidend bleibt der Weg, den sie objektiv gehen.

Bei alldem haben wir uns klarzumachen, daß die Epochen und ihre gesellschaftlichen Kämpfe - wir sprachen der Einfachheit halber von Übergangs- und Umsturzzeiten - die ihnen entsprechenden künstlerischen Formen nicht unmittelbar erzeugen; niemals wird, selbst bei einschneidenden Revolutionen, eine Kraft durch die Gegenkraft von heute auf morgen abgelöst, und keineswegs folgt deshalb im gleichen Tempo, in dem eine Gesellschaftsstruktur auf die andere folgt, auch die entsprechende Umwandlung der jeweiligen künstlerischen Formen. Oft ist aber auch das Gegenteil zu beobachten. Da der wahrhaft große, der realistische Künstler im besten Sinne des Worts ein Prophet ist, der in seinem Werk der Zeit voraus lebt, wird es in der Kunst immer wieder schon Ansätze des Neuen, Zukunftschwangeren zu einer Zeit geben, da sich der gesellschaftliche Umbruch erst undeutlich ankündigt. Allerdings nur einem Genie wird es dann und wann gelingen, mehr als bloße Ansätze zu geben; nur ein Genie wird schon seiner Zeit künstlerisch den Stempel der kommenden aufprägen. Aber Genies sind, wie die Geschichte zeigt, äußerst selten.

Zweierlei ergibt sich aus dem eben Gesagten. Einmal, daß künstlerische Formen nicht zufällig, nicht unabhängig vom Gesellschaftlichen entstehen; Zum andern aber auch, daß sich gesellschaftliche Wirklichkeit und künstlerische Form nicht so direkt und unkompliziert zueinander verhalten wie, sagen wir, Original und Spiegelbild.

Wer willig ist, diesen Gedankengängen zu folgen und sie zu bejahen, bleibt vor einem bewahr: vor jenem Schematismus, der (in der modernen Kunstgeschichte als "Vulgärsoziologie" bezeichnet) dahin führt, die künstlerische Produktion unmittelbar aus sozialen Schichtungen und Kämpfen oder einem abstrakt genommenen "Zeit" begriff abzuleiten; ja, er wird in vielen Fällen erkennen, wie weitgehend die subjektiven gesellschaftlichen Ansichten und Absichten eines Autors objektiv von der konkreten Kompliziertheit und Widersprüchlichkeit der gesellschaftlichen Realität ignoriert und sogar ins Gegenteil verkehrt werden können. (Nur so sind überhaupt Erscheinungen wie Balzac und andere "Realisten wider Willen" erklärbar!)

Ebenso vielfältig vermittelt, ebenso widersprüchlich und dennoch letzthin einheitlich, wie sich das Problem Form und Inhalt im Gesellschaftlichen erweist, zeigt es sich natürlich auch, wenn wir es im Einzelfall konkret auf die Persönlichkeit des einzelnen Künstlers und dessen Zeit übertragen. Das kann auch nicht anders sein, denn jeder Künstler ist ein Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit seiner Zeit, selbst wenn er sie negiert. Ihr entnimmt er seine Inhalte, selbst wenn er sie der Vergangenheit oder seiner Phantasie zu entnehmen glaubt. Ihr entnimmt er seine Formen, selbst wenn er sie für seine ureigensten, von seinem Talent eingebenen Erfindungen hält.

Form und Inhalt stehen also im allgemeinen wie im Einzelfall offensichtlich in fortwährender Wechselwirkung, in so starker, daß bei vielen Menschen, besonders bei Künstlern, die Fehlmeinung aufkommen konnte, die Form - als das sinnfällige Äußere, die Kunst vom gewöhnlichen Leben Unterscheidende - sei das Beherrschende, das Primäre, ja, sei das einzige Kriterium der Kunst überhaupt; der Inhalt hingegen sei bestenfalls "Ton in des Töpfers Hand", sei nur Rohstoff. (Womit dann glücklich auch noch die Begriffe Stoff und Inhalt durcheinandergebracht sind!) Statt zu erkennen, daß aus inhaltlicher Lüge stets nur Kitsch, aus dem rohesten Stoff aber sehr wohl ein Kunstwerk entstehen kann.

Selbstverständlich ist und war zu allen Zeiten die künstlerische Form nicht bloß die zufällige Umhüllung eines mehr oder minder nach inhaltlichen Gesichtspunkten geordneten Stoffs, sondern weit mehr, nämlich zum Teil schon eben die ordnende Kraft, sodann aber die tiefe Durchdringung und damit Neugestaltung - künstlerische Neugestaltung - des Inhalts. Auch in der Kunst geht es, wie in allen Bezirken des Lebens, nicht mechanisch, sondern dialektisch zu.

Der Stoff zu Shakespeares "Romeo und Julia" ist eine Liebesgeschichte, wie sie vor und nach Shakespare von zahllosen Autoren schlecht und recht verarbeitet wurde. Aber schon die Tatsache, daß dieser Stoff sowohl von andern Dramatikern zu völlig andern, wenn auch nicht gleich genialen, so doch künstlerisch durchaus gelungenen Dramen (beispielsweise von Grillparzer) als auch von Epikern (beispielsweise von Gottfried, Keller) zu fast kongenialer epischer und schließlich von Lyrikern (beispielsweise neuerdings von Johannes R. Becher) zu lyrischer Gestaltung benutzt wurde, zeigt uns den unendlich weiten Spielraum, den der Stoff für beliebige künstlerische Formung zuläßt.

Doch vom Stoff verwendet der gestaltende Künstler nur einen Bruchteil. Er wählt sich einen Ausschnitt. Und dieser Ausschnitt wird jeweils bestimmt vom Inhalt.

Der Inhalt von "Romeo und Julia" (um bei unserm Beispiel zu bleiben) ist der Kampf zweier Liebender um ihr menschliches Selbstbestimmungsrecht gegenüber der starren Konvention einer bestimmten Gesellschaftsordnung. Diesen fortschrittlichen, zu seiner Zeit revolutionären Inhalt wollte Shakespeare gestalten; niemand wird wohl behaupten wollen, es sei des Dichters Absicht gewesen, mit "Romeo und Julia" irgendeine neue oder auch nur eine ganz bestimmte dramatische Form zu schaffen, zu der er sich zufällig gerade diesen Inhalt ausgesucht habe, es hätte aber auch jeder andere sein können. Nein, der Inhalt war das Primäre. (Was nicht ausschließt, daß der Dichter durch zufällige Lektüre jener italienischen Novelle, die dem Drama zugrunde liegt, erst auf den Gedanken kam, gerade diesen Inhalt dramatisch zu gestalten!) Da Shakespeare, wie jeder große Dichter, Realist war, konnte er - vom Inhalt her - den Kampf zweier schwacher Individuen gegen eine mächtige Gesellschaftsordnung nur tragisch enden lassen. Der Inhalt bestimmte also die künstlerische Form noch präziser: nicht Lust- oder Schauspiel, sondern Trauerspiel.

Der Inhalt findet seine Konkretisierung in unserm Beispiel zunächst in der gegebenen Fabel von den beiden feindlichen Familien, deren Kinder einander lieben und ihre individuelle Freiheit gegen den Zwang der Sippe durchsetzen wollen. Es ist kein Zufall, sondern dramaturgisch von typischer Bedeutung, daß die Fabel von "Romeo und Julia" - wie übrigens die Fabeln zahlreicher Dramen der Weltliteratur, die nicht einem tatsächlichen Geschehen entnommen oder vom Autor, um einen bestimmten Inhalt auszudrücken, frei erfunden sind - einer Novelle entstammt. Denn die Novelle in ihrer einfachen, aber stets einen gesellschaftlich beispielgebenden Sonderfall behandelnden Fabel, in der typische Charaktere in extremen Situationen aufeinanderprallen können, um ihre äußersten menschlichen Möglichkeiten zu entfalten, gibt inhaltlich die günstigste Grundlage auch für die dramatische Form. Hingegen ist der ganz andersartige Inhalt breiter Epik, wie hundertfache Erlahrung lehrt, nicht in die dramatische Form einzuschmelzen: "dramatisierte" Romane sind noch stets inhaltliche Verstümmelungen und Verfälschungen gewesen, wenn sie überhaupt je eine dramatische Wirkung taten. Die innere Gesetzmäigkeit von Inhalt und Form wird hier, an diesem negativen Beispiel, besonders offenkundig.

Gesetzt nun den Fall, der Dichter habe sich für einen bestimmten Inhalt entschieden und eine einfache Fabel, in der sich dieser Inhalt am besten ausdrücken läßt, gefunden - hat er damit auch schon seine dramatische Form?

Natürlich nicht. Hier beginnt überhaupt erst das schöpferische Problem. Wir sind weder so amusisch noch so mechanisch in unserm Denken, um nicht zu wissen, daß jetzt erst die eigentliche dramaturgische Arbeit einsetzt. Wäre dem nicht so, dann gäbe es bei uns gute Dramatik in Fülle, denn es gibt ja in der Weltliteratur unendlich viele gute Novellen! Nein, wie schwierig und kompliziert der nunmehr beginnende Umformungsprozeß ist, der immer noch weit mehr bedeutet als die Lösung eines bloßen Formproblems, das mag man einmal im einzelnen an Gerhart Hauptmanns "Elga" studieren - es gibt kaum ein lehrreicheres Beispiel im Geglückten wie im Mißlungenen.

In diesem Stadium der schöpferischen Tätigkeit stehen nämlich vor dem Dramatiker immer wieder aufs neue die Fragen: Wie führe ich die Fabel aus dem Epischen ins Dramatische; wie konzentriere ich Erzähltes, Kommentiertes, Reflektiertes, wie Milieu und Vorfabel in gesprochenen Gegenwartsdialog, der in jedem Augenblick zugleich Handlung zu sein hat? Wie kann ich das alles ausdrücken, sinnfällig machen, ohne die Charaktere meiner Menschen zu verflachen oder gar zu verbiegen, wo ich sie doch im Gegenteil vertiefen, vom Inhalt her ausschließlicher gestalten muß? Welche neuen Figuren darf ich einführen, welche reduzieren, welche ganz streichen? Welche Teile der Fabel beschneide, welche ändere, welche erweitere ich, um den von mir gewollten Inhalt dramatisch und nur dramatisch zur Geltung zu bringen?

Denn das Drama hat einige uralte und doch ewig neue, unverbrüchliche Gesetze, die Formgesetze sind und doch weit mehr! Uralt - weil sie bereits Aristoteles niederschrieb. Ewig neu - weil sie, Lessing hat es uns am schönsten und klarsten gezeigt, zu allen Zeiten neu, das heißt lebendig angewandt werden müssen.

Eine der Hauptaufgaben heutiger Dramaturgie und Theaterkritik wird sein, diese Grundgesetze wiederzuentdecken, Verstöße wider sie zu erkennen, zu vermeiden, zu kritisieren; vor allem aber gilt es, das oberste Gesetz aller Dramaturgie, daß nämlich das Drama gestaltetes menschliches Schicksal im Gegeneinander handelnder Charaktere (nicht aber personifizierter Ideen) sinnfällig zu machen hat, neu, lebendig, der gesellschaftlichen Realität unserer Zeit entsprechend anzuwenden.

Fritz Erpenbeck

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