IV
von Barrie Kosky
Erschienen in: On Ecstasy (02/2021)
Ekstase transportiert sich im Theater am besten über Phantasmagorien. Und der Meister theatralischer Phantasmagorien ist Richard Wagner. Sein Theater ist ein komplexer, sich fortwährend verschiebender Kontinent, auf dem es sowohl für seine Bühnenfiguren als auch für seine Zuschauer durchaus schwierig ist zu unterscheiden, was real und was imaginiert, was gedacht und was halluziniert ist.
Der fliegende Holländer ist eine Oper, in der die meisten Figuren zumindest einen Teil der Handlung schlafend, tagträumend oder halluzinierend verbringen. Gleich in den ersten Minuten gibt Daland seiner Mannschaft die Anweisung: „Lange war’t ihr wach: zur Ruhe denn! Mir ist nicht bang!“, um dann unter Deck zu gehen und zu schlafen. Der Steuermann kann die Augen selbst beim Wachdienst nicht mehr offen halten und fällt, schläfrig von seiner Liebsten singend, alsbald am Steuerrad in Schlaf. Der Holländer verkündet, dass er auf den Tag des Jüngsten Gerichts warte, wenn die Toten von ihrem Schlaf auferstehen. Senta hängt am Tag bei der Arbeit Träumen nach und halluziniert bei Nacht. Und Erik hat im Traum prophetische Visionen. Niemand in dieser Oper scheint längere Zeit wach zu bleiben, außer vielleicht der arme Holländer, der offenbar an hoffnungsloser akuter Schlaflosigkeit leidet. Oder ist es nur ein Fall von extremem Schlafwandeln?...