Theater der Zeit

Über Fluglärm

Pandemische Arbeiten von LIGNA und Lawrence Abu Hamdan

von Benjamin Wihstutz

Erschienen in: Recherchen 165: #CoronaTheater – Der Wandel der performativen Künste in der Pandemie (08/2022)

Assoziationen: Performance Dossier: Digitales Theater Dossier: Klimawandel Gruppe Ligna

The Passengers von LIGNA. Screenshot: Ole Frahm.
The Passengers von LIGNA.Foto: Ole Frahm

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Seitdem ich in Mainz wohne, weiß ich, dass schönes Wetter meist Ostwind bedeutet. Denn bei Ostwind beginnen die Tage für mich mit einer bestimmten Art des Aufwachens: Mein Wecker ist dann der Sound einer Boeing 747 aus Bogotá oder Beijing, eines A 380 aus Lagos oder Los Angeles. Der Lärm beginnt exakt um 4:56 Uhr, vier Minuten vor der Landeerlaubnis am Frankfurter Flughafen. Da die Flugzeuge den Gegenwind zum Landen nutzen, fliegen sie bei Ostwind nicht, wie zwei Drittel aller Tage im Jahr, von Offenbach aus den Flughafen an, sondern kommen genau über mein Haus geflogen. Der Lärm steigert sich für dreißig Sekunden auf etwa fünfzig Dezibel und ebbt dann nach etwa vierzig Sekunden wieder ab. Nach ein bis zwei Minuten Ruhe beginnt der vertraute Sound von Neuem.

Als im Frühjahr 2020 die Theater zum ersten Mal schließen mussten und ein Großteil des öffentlichen Lebens zum Erliegen kam, hatten die internationalen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie für meinen Wohnort einen angenehmen Nebeneffekt. Zwar landeten nach wie vor einige Cargo-Frachter am frühen Morgen in Frankfurt und eine Weile fanden noch zahlreiche Leerflüge statt, die aufgrund von reservierten Slots und der hohen Standgebühren am Flughafen nicht ausfallen konnten. Doch spätestens nach zwei Monaten war der Unterschied deutlich zu spüren. Es gab kaum noch Fluglärm. Die besondere Erfahrung pandemischer Raumzeit, die für die meisten Menschen in Europa mit der Abnahme von Mobilität im Alltag, mit der Vereinzelung und Parzellierung von Haushalten,1 mit Homeschooling und Homeoffice, Zoom-Terminen und einsamen Spaziergängen einherging, hatte für mich daher zusätzlich eine akustische Dimension: Sie ging einher mit einer angenehmen Ruhe am Himmel, die ich an sonnigen Frühlingstagen so bisher an meinem Wohnort nicht kannte.

Ich möchte mich in diesem Beitrag mit Fluglärm und Flughäfen beschäftigen. Genauer gesagt möchte ich einige Überlegungen darüber anstellen, wie die Pandemie unser Verhältnis zum Fliegen, zu Flughäfen und globalen Räumen der Vernetzung, der Logistik und des Reisens gerade auch angesichts der bevorstehenden Klimakatastrophe verändert hat. Und natürlich geht es um die Frage, wie die performativen Künste in der Pandemie auf diesen Wahrnehmungswandel des Fliegens und Reisens reagiert haben und in welcher Weise Flughäfen und Fluglärm von Performances selbst thematisiert wurden.

Jetset

Wenn hier von ›unserem Verhältnis‹ zum Fliegen die Rede ist, meine ich damit in erster Linie eine privilegierte, kosmopolitische Minderheit, die meist aus dem globalen Norden kommt und zu der ich mich zählen kann. Es geht um eine Minderheit, die sich das Fliegen leisten kann und mit ihm aufgewachsen ist. Ich denke insbesondere an Menschen mit internationalen Netzwerken und multiplen Migrationshintergründen, an Wissenschaftler*innen, Künstler*innen, Kulturschaffende, Unternehmer*innen oder Journalist*innen, für die das Reisen mit zum Alltag gehört und nur mit wenigen Barrieren und Einschränkungen verknüpft ist. Ich schreibe aus einer Perspektive, welche die Flugreise nicht als besonderes Ereignis, sondern als Normalität kennt, sei es, indem man regelmäßig zu internationalen Konferenzen fliegt, indem man Verwandte oder Lebenspartner auf anderen Kontinenten besuchen kann, indem man von einer Stiftung oder vom Goethe-Institut an ferne Orte eingeladen wird oder weil man irgendwo eine Oper inszenieren muss.

Der Ur-Typus jenes privilegierten Reisenden ist vielleicht Roland Barthes’ Jet-man, ein Mensch, der das Reisen weder mit Abenteuer noch mit Schicksal verknüpft, sondern nur noch als Situation und physische Kondition kennt. Was den Jet-man auszeichnet, schreibt Roland Barthes in Mythen des Alltags 1957, ist »weniger sein Mut als sein Gewicht, seine Ernährungsweise und sein Lebenswandel«.2 Der Jet-man steht als Allegorie für einen Paradigmenwechsel des Reisens, der in den späten fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit der Einführung des Düsenjets als Passagierflugzeug beginnt. Fliegen wurde nach und nach erschwinglicher, Fluggesellschaften wie PanAm oder TWA expandierten rasant, weltweit wurden neue Flughäfen errichtet. Alastair Gordon schreibt in seinem Buch Naked Airport (2004)3 eine Kulturgeschichte des Flughafens, die von mehreren Zäsuren und Brüchen gekennzeichnet ist und in der er die Periode zwischen 1957 und 1970 als »Jet-Land« betitelt. Um 1960 herum, so Gordon, wird jet im Amerikanischen zum Mode- und Werbewort schlechthin: Die Football-Mannschaft New York Jets wird gegründet, im Fernsehen läuft Die Jetson Family, eine Zeichentrickserie über die perfekte Familie aus der Zukunft, moderne Wasch- und Spülmaschinen bekommen Namen wie jetwash, der airport wird vorübergehend zum jetport und das Wort jet lag wird zur Bezeichnung für eine neue Managerkrankheit.4 John Denver singt 1966 Leaving on a Jet Plane und die New York Dolls Anfang der siebziger Jahre vom Jet Boy.

Zum Jet-Boom gehört außerdem eine atemberaubend neue Flughafenarchitektur, wie sie in den sechziger Jahren etwa am JFK in New York von Eero Saarinen oder in Saint Lewis von Minoru Yamasaki, der auch das New Yorker World Trade Center entworfen hat, verwirklicht wurde. Auch diese Architektur trägt dazu bei, dass der Jetset weniger Lebenswirklichkeit denn vielmehr die imaginäre Seite der Flugreisen darstellt, das Spektakel des Reisens im Debord’schen Sinne.5

Der Jetset prägt das Bild vom Fliegen Jahrzehnte vor der Erfindung der Billigflieger, aber auch deutlich nach dem abenteuerlichen Flug von Charles Lindbergh über den Atlantik, über den Bertolt Brecht in seinem Radio-Lehrstück Der Ozeanflug (1929) noch ein Zwiegespräch des Piloten im Nebel mit dem ratternden Motor schrieb.6 Der Jet-man um 1960 kennt weder Rattern noch Nebel, er ordert lieber einen Drink bei einer der Stewardessen, die in den Gängen des Jets auf den »Catwalks der Lüfte«7 entlangschreiten.

So positiv einerseits das Bild des Jetsets in den sechziger Jahren von Werbung und Populärkultur, von James-Bond-Filmen und Popsongs geprägt wurde, so hitzig waren andererseits von Beginn an die Debatten über Fluglärm. Bereits 1959 gründete der Londoner Geschäftsmann John Connell eine Lärmbekämpfungsgesellschaft, die British Noise Abatement Society, die im Zuge zahlreicher Beschwerdebriefe von Anwohner*innen des Flughafens Heathrow schnell an Popularität und Einfluss gewann und sich für die Schließung von Flughäfen, für neue Lärmgesetze, Grenzwerte und Lärmzonen, aber auch für die objektive Messung von Fluglärm einsetzte.8 In ihrer umfangreichen Studie über die Geschichte von Mechanical Sound (2008) schildert Karin Bijsterveld, wie das National Physical Laboratory zu Beginn der 1960er Jahre Flugschauen vor einer sechzigköpfigen Lärm-Jury veranstaltete, um nicht allein die Lautstärke, sondern auch die unterschiedlichen subjektiven Empfindungen des Fluglärms nach Alter und Geschlecht zu erfassen und auszudifferenzieren. In Deutschland veröffentlichte 1961 der Direktor des Max-Planck-Instituts für Arbeitsphysiologie in Dortmund, Gunther Lehmann, zusammen mit dem Luftfahrtingenieur Franz Joseph Meister eine Publikation mit dem Titel Die Einwirkung des Lärms auf den Menschen. Geräuschmessungen an Verkehrsflugzeugen und ihre hörpsychologische Bewertung,9 in der die Autoren vor der Gesundheitsschädigung durch Fluglärm – etwa erhöhtem Blutdruck und schlechter Durchblutung – warnen. Meister rät in seinem Beitrag explizit davon ab, neuere große Düsenjets in Deutschland einzusetzen, weil dadurch »die Stärke des Lärms zu einem noch nicht erlebten Ausmaß anwachse und die Art des Lärms unangenehmer als bei den älteren Flugzeugtypen werde«.10 Helfen könne hingegen die präzise Messung und Berechnung eines Fluglärm-Störindex Q, der nicht nur die Dauer und Lautstärke des Lärms, sondern auch die Abweichung des Jets von der idealen Flugbahn auf eine allgemeingültige Formel bringe.11

Was diese wenigen Beispiele aus der Geschichte des Fluglärms zeigen, ist, dass die Zunahme des Fliegens im Zuge des Jetsets von Beginn an als ambivalentes Phänomen wahrgenommen wurde – für die Passagiere bedeutete der Ausbau von Flughäfen und Fluglinien, dass Fliegen erschwinglicher und damit immer attraktiver wurde, die Anwohnenden von Flughäfen hingegen wurden vom Fluglärm zunehmend um ihren Schlaf gebracht. Auch wenn sich der physiologische Zusammenhang zwischen Fluglärm und erhöhtem Blutdruck allenfalls in vereinzelten Studien belegen ließ, ist die Stressbelastung von Anwohnenden von Großflughäfen, die, wie in Istanbul oder Dubai anders als in Frankfurt, über kein Nachtflugverbot verfügen, heute größer denn je. Zu den dunklen Seiten des Jet-Zeitalters gehören zweifellos auch die Schreckensbilder von Flugzeugabstürzen und Terrorangriffen, allen voran der 11. September 2001, bei dem ausgerechnet das von einem Flughafenarchitekten gebaute Wahrzeichen New Yorks zerstört wurde, und die sich in die Köpfe der Passagiere als Horrorszenario eingeschrieben haben. Dem Fliegen haftet somit eine merkwürdige Doppelgesichtigkeit an. Während der Jetset, der nach Gordon bereits 1970 mit der Einführung des Jumbo-Jets und spätestens mit der Massenabfertigung von Billigfluglinien ab den neunziger Jahren deutlich an Glanz verliert, dennoch imaginär das Fliegen bis in die Gegenwart geprägt hat, sind Fluglärm und Flugkatastrophen die Schattenseite einer Kulturgeschichte des Fliegens, die diese nicht minder beeinflusst haben.

Endgültig, so möchte ich behaupten, ist der Jetset aber erst seit 2020 Geschichte. Denn das Bild des Jetsets stirbt aufgrund einer doppelten Krise: der Corona-Pandemie einerseits, weil sie mit geschlossenen Grenzen und längst überwunden geglaubten Reisebeschränkungen den globalen, glatten Raum des Jetsets in einen zutiefst gekerbten Raum12 zurückverwandelt hat; und der Klimakrise andererseits, die durch die plötzlich stillgelegten Flughäfen das Phänomen der Flugscham paradoxerweise erst vollends ins Bewusstsein rückte. Vor der Pandemie ließen sich stets Ausreden für den CO2-Ausstoß der eigenen Flugreise finden, nun gab es bei Konferenzen und Business Meetings plötzlich Zoomeinblicke in heimische Wohnzimmer statt die Sky Lounge am Airport. Und auch wenn der Rebound bei Flugreisen bereits im Frühjahr 2022 in vielen Ländern der Welt messbar ist,13ist ein Zurück zum gänzlich unbeschwerten Reisen vor der Krise kaum denkbar. Denn wir wissen heute, dass es auch anders geht – wir wissen, dass diese oder jene Konferenz auch online stattfinden könnte, wir wissen und haben die Erfahrung am eigenen Leib gemacht, dass unser Alltag auch mit einem Bruchteil der Mobilität auskäme und mit weitaus weniger CO2-Ausstoß möglich wäre.

Aus klimapolitischer Sicht wirkte die Pandemie daher auf nicht wenige wie eine göttliche Intervention: Drei Monate nachdem Greta Thunberg mit dem Segelboot über den Atlantik gefahren war, brach der Flugverkehr weltweit zusammen und es wurde merklich ruhiger am Himmel. Die Pandemie sei, so schrieb Bruno Latour im März 2020, ein dress rehearsal für die eigentliche Krise, die uns früher oder später – ob auf den untergehenden Malediven oder beim Hochwasser in der Eifel – heimsuchen werde. »The health crisis«, so Latour, »prepares, induces, incites us to prepare for Climate Change.«14 War und ist Covid-19 eine Art pre-enactment von dem, was kommen wird? Ein Ende unbeschwerten Reisens vielleicht, womöglich aber auch der Beginn eines allmählichen Umdenkens bei der Konzeption von großen Veranstaltungen wie Konferenzen und Theaterfestivals,15 für die ganze Ensembles und Orchester um die Welt geflogen werden. Im April 2020 bot sich weltweit an den großen Flughäfen jedenfalls ein auffallend ähnliches Bild wie in den Theatersälen: Die Gangways und Terminals waren verwaist, die Rollbänder leer, die Bagage Claim Area wie ausgestorben.

Flughafentheater

Was liegt näher als die Krise der Flughäfen und die Krise der performativen Künste zu nutzen, indem man beides miteinander verbindet? Das Radio- und Performancekollektiv LIGNA hat mit The Passengers im Juli 2021 einen GPS-basierten Videowalk am Frankfurter Flughafen inszeniert, der nicht nur den zumindest öffentlich zugänglichen Teil des Flughafens auf neue Weise erleben ließ, sondern auch die globale Vernetzung und die Verknüpfungen von Flugreisen, Kapital, Logistik und Klimawandel thematisierte. Bei einem Videowalk, ein Genre, das die kanadische Künstlerin Janet Cardiff zu Beginn dieses Jahrtausends entwickelt hatte, folgt man dem Videobild auf einem Display, in diesem Fall dem Bewegtbild auf einem Smartphone, und schreitet dann dieselbe Strecke ab wie derjenige, dessen Bewegung im Video zu sehen ist, die aber eine aufgezeichnete Vergangenheit zeigt.16 Allgemein gehören Walks zu den populären und wiederentdeckten Performance-Genres der Pandemie, sind sie doch aufgrund der zeitlichen Taktung und damit verbundenen Vereinzelung der teilnehmenden Zuschauer*innen ein besonders pandemiegeeignetes Format – und mit Gesichtsmaske lässt sich sogar ein teilweise wiederbelebtes Flughafenterminal problemlos erwandern.

Das Interessante an einem Videowalk ist jedoch – und in diesem Punkt ähneln sich Cardiffs illusionistisch angelegte Arbeiten mit dem sehr anderen, dokumentarisch und essayistisch konzipierten Walk von LIGNA –, wenn Videobild und Umgebung leicht voneinander abweichen. Dies kann geschehen, wenn einem auf dem Display plötzlich eine Person gegenübertritt, die in Wirklichkeit gar nicht vor einem steht oder wenn der Raum, durch den man gerade schreitet, sich plötzlich visuell oder akustisch verändert. »I had found a way to be at two places at once. I was able to simulate space and time travel in a very simple way«,17 hat Cardiff ihre Walks aufgrund ihrer Zeitstruktur und Aufnahmetechnik passend beschrieben. LIGNA nutzen nun dieses Potenzial der Simultaneität dahingehend, dass der Videowalk nicht allein durch den Frankfurter Flughafen und dortige Unter- und Überführungen, Bahnhöfe, Park- und Treppenhäuser führt, sondern man sich auf dem Display zugleich durch sechs weitere Flughäfen auf der Welt bewegt: den auf der niederländischen Inselkolonie Curaçao, den Flughafen in Jaounde in Kamerun, den auf einer künstlichen Insel errichtete Kansai Airport in Osaka, den John F. Kennedy Airport in New York, den Flughafen der südbrasilianischen Stadt Porto Alegre sowie der bulgarischen Hafenstadt Varna. Das Video wechselt je nach gesprochenem Text zwischen diesen Flughäfen hin und her, teilweise auch losgelöst von dem, was im Hörstück berichtet wird (Abb. 1). Thematisiert und hervorgehoben werden dabei nicht etwa architektonische Highlights. Vielmehr geht es hier um Flughäfen als Orte globalen Kapitals und des Kolonialismus, der Vertreibung und Prekarisierung sowie der Ortlosigkeit. Auch Geschichten des Verschwindens spielen eine Rolle wie jene des Passagiers Lars Mittank, der 2014 am Flughafen Varna während einer Urlaubsreise unter mysteriösen Umständen spurlos verschwunden ist und dessen Geschichte den Walk als eine Art Leitmotiv begleitet. Vor allem zeigt der Spaziergang von LIGNA den Teilnehmenden aber Flughäfen als Nicht-Orte einer globalisierten Welt. Mit dem Begriff Nicht-Ort, der ursprünglich von Michel de Certeau stammt, bezeichnete der Kulturanthropologe Marc Augé in den neunziger Jahren unter anderem Flughäfen, Autobahnen und Einkaufszentren, Orte ohne Geschichte und Identität, »imaginäre Orte, banale Utopien, Klischees«,18 die aus den Phantasmen der Spektakelgesellschaft hervorgegangen sind.

Es wundert insofern kaum und ist doch verblüffend, wie sehr sich diese Nicht-Orte der verschiedenen Flughäfen bei LIGNA mühelos überlagern, wie ein Laufband oder ein Treppenhaus in Curaçao, eine Autovermietung in Varna oder eine Aussichtsbrücke am Kansai Airport ziemlich exakt genauso aussehen wie am JFK in New York oder hier am Frankfurter Flughafen. »Passagen der Ähnlichkeit, die wie aus dem Nichts erscheinen – und wieder verschwinden können«, sagt eine von LIGNAs Stimmen, während das Bild auf dem Display von New York nach Osaka wechselt.19 Annika Wehrle schreibt in ihrem Buch über Passagenräume (2015), dass die Dramaturgie solcher Audio- und Videowalks weder von reiner Kontingenz noch von einem unaufhörlichen Fließen gekennzeichnet ist, sondern von »passageren Formen kurzfristiger Verstetigung, Materialisierung und Auflösung.«20 Es ist ein globales Theater der Übergänge, das LIGNA hier im Zusammenschnitt der unterschiedlichen Flughäfen inszenieren. Einige Male sind die Videos von LIGNA so geschnitten, dass man nahezu denselben Nicht-Ort an fünf verschiedenen Flughäfen hintereinander zu sehen bekommt, Rolltreppen, Korridore, Durchgangsschleusen, Abfertigungsschalter, Fahrstühle, Gepäckbänder. »Alles was originell ist, desorientiert. Die Reisenden gehen durch die immer selben Gänge«, sagt eine der Stimmen im Videowalk. Doch mit dieser Uniformität des Raumes ist zugleich eine Geschichte der Expansion, des Kolonialismus und des globalen Kapitals verbunden, die LIGNA mittels des von sieben Schauspieler*innen gesprochenen Textes immer wieder thematisiert: So erfahre ich etwa, dass der Aeroporto Porto Alegre einer von dreißig Flughäfen auf vier Kontinenten ist, der nicht nur aussieht wie in Frankfurt, sondern auch derselben global agierenden, in Frankfurt ansässigen Aktiengesellschaft Fraport gehört. Am Flughafen Jaounde erfahre ich etwas über die deutsche Kolonialgeschichte des Kautschukabbaus in Kamerun und das Greenwashing des internationalen Kautschuk-Unternehmens Halcyon Agri. Alle Flugzeugreifen, so werde ich aufgeklärt, sind bis heute aus Naturkautschuk. Ich höre etwas über Aufstände auf Curaçao gegen die Kolonialmacht, die sowohl 1969 als auch 2020 von den Niederlanden mithilfe des Militärs niedergeschlagen wurden. In Porto Alegre hat die Fraport AG schließlich ein ganzes Stadtviertel umsiedeln lassen – einige Familien, so wird berichtet, harren noch immer in den Ruinen der Villa Nazaré aus. Weder sie noch die Aufständischen von Curaçao begeben sich als Passagiere zum Flughafen. »Kautschuk, Holz, Kakao, Kaffee, Palmöl dürfen das Land verlassen. Sie haben die richtigen Papiere«, sagt eine Stimme. Die Prüfung der Identität, die Nicht-Orte nach Augé generell kennzeichnet, fordere an diesen Orten ständig dazu auf, die eigene Unschuld zu beweisen. Nur wer unschuldig sei, erlange Zutritt.21 Zugleich sind gerade diejenigen, die den Terminal nur von außen oder als Arbeiter*innen sehen, für das Wachstum des Kapitals und die globalen Lieferketten maßgeblich verantwortlich, die Grenzenlosigkeit des Handels und der Logistik gleicht für sie einer unüberwindbaren Mauer, durch die nur die Rohstoffe und Waren gelangen, sie selbst bleiben an ihrem Ort.

Eine Hand hält ein Smartphone quer vor den Ausblick aus einem Fenster des Frankfurter Flughafens. Das auf dem Smartphone-Display gezeigt Bild und der Ausblick zeigen ähnliche, aber unterschiedliche Motive.

Die weiße Hand und das Smartphone sind zentral rechts im Foto zu sehen. Die Person, von der nur Hand und Handgelenk zu sehen sind, stützt das Smartphone auf dem Daumen ab und fixiert es mit Mittel- und Zeigefinger von rechts oben. Links ist ein Kabel an die Kopfhörer-Buchse angeschlossen, das zentral unten aus dem Bild verschwindet. Das Bild, das das gesamte Display ausfüllt, ist in blassen Grün- und Grautönen gehalten und zeigt den Ausblick auf ein Flugfeld, auf dem drei Flugzeuge geparkt sind. Rechts und links erheben sich Gebäude. Hinter dem Smartphone richtet sich der Ausblick auf die tatsächliche Umgebung der Person durch ein breites Fenster. Die Aussicht ist teilweise durch drei Balken versperrt, über die sich ein grobmaschiges Netz spannt. Man sieht das Gelände des Frankfurter Flughafens: weiße, kastige Gebäude begrenzen einen Platz, auf dem weiße Markierungen sowohl Parkplätze als auch eine Straße ausweisen. Man sieht geparkte Busse und Autos, sowie einige blaue Container.

Der Soziologe Steffen Mau hat in seinem Buch Sortiermaschinen (2021) beschrieben, wie die Globalisierung nicht allein für die Flexibilisierung des Warenhandels und eine Durchlässigkeit der Grenzen gesorgt hat, sondern zeitgleich die Außengrenzen von Makroterritorien aufgewertet und überall auf der Welt neue Mauern hochgezogen wurden.22 Das Globale ist in diesem Sinne nicht als das Gegenteil des Nationalen zu verstehen, vielmehr sei das Nationale durch die Funktion von Grenzen als globale Sortiermaschinen an der Konstitution des Globalen und ihren Schließungsmechanismen maßgeblich beteiligt. »Die Grenze im 21. Jahrhundert«, so schreibt Mau, »ist sichtbar und unsichtbar, örtlich fixiert und flexibel, physisch und virtuell, permanent und punktuell, national und international, regional und global.«23

Auf der Ebene von globalisiertem Handel und der Logistik impliziert die Flexibilität von Grenzen zugleich die Austauschbarkeit von Arbeitskraft. Als Sortiermaschine kann das globale und flexible System von Grenzen und Freihandelszonen jederzeit zum Aussortieren von Standorten, Arbeitsplätzen und Arbeitskräften genutzt werden. Dieses Grundprinzip der Austauschbarkeit wird selbst durch die unvorhergesehene Corona-Krise nicht erschüttert, mal trifft es den Tourismus und das Flughafenpersonal, mal streikende Radler*innen beim Berliner Start-up Gorillas.24 »Logistik«, so schreibt Isabell Lorey in einem Essay über die Pandemie, ist »keine straff organisierte Produktionsmaschinerie, sondern ein Management von Kontingenz, Experimenten, Verhandlung und instabilen Verpflichtungen. Logistik ist das Management des Unvorhersehbaren mit den entsprechenden unkalkulierbaren prekären Jobs«.25 Die Nicht-Orte Marc Augés können heute offenbar weder auf ein ästhetisch-räumliches Phänomen noch auf die Phantasmen einer Gesellschaft des Spektakels reduziert werden. Sie sind vielmehr Grundpfeiler einer logistischen Globalgesellschaft, die Arbeitskräfte, Dienstleistungen, Finanzströme und Lieferketten laufend flexibilisiert, austauscht und anpasst, und die durch den Kauf einer beliebigen Ware in einem beliebigen Land CO2 an zig unterschiedlichen Orten gleichzeitig in die Atmosphäre pustet. Und natürlich sollte nicht vergessen werden, dass auch die aktuelle Pandemie aufs Engste mit dem Klimawandel verwoben ist. Ich zitiere noch einmal Isabell Lorey:

Kapitalgesteuerte Abholzungen von Tropenwäldern greifen inzwischen derart in Ökosysteme ein, dass ›wilde‹ Viren nicht mehr durch ökologische Komplexitäten reguliert werden und wieder verschwinden, sondern sich auf menschliche Populationen ausweiten. Zoonotische Krankheitserreger gelangen in die Nahrungskette und verbreiten sich durch Lieferketten.26

Die Flughäfen, Amazon-Lieferzentren, Schlachthöfe, jene Nicht-Orte der Logistik sind das Fundament dieser Pandemie, die in Deutschland im Januar 2020 bezeichnenderweise durch einen internationalen Workshop einer Auto-Zulieferer-Firma im bayerischen Stockdorf mit einer Mitarbeiterin aus Wuhan ankam. Doch trotz diverser Lockdowns und Schutzmaßnahmen wurden die logistischen Lieferketten in der Politik während der Pandemie weltweit kaum infrage gestellt. Im Gegenteil: Angesichts des Schlachthofskandals von Tönnies im Sommer 2020 schien es, als sei die Gesundheit der bulgarischen und rumänischen Arbeiter*innen nebensächlich, solange diese in abgelegenen Containern wohnen bleiben. »Some bodies are simply considered expendable«27 schrieb Jack Halberstam einst über die AIDS-Pandemie. LIGNAs Videowalk The Passengersermöglicht den Teilnehmenden einen Einblick in die Netze all jener globalen und postkolonialen Interdependenzen, ohne die es zu dieser pandemischen Situation vermutlich niemals gekommen wäre.

Am Ende des Videowalks werden Bilder von den stillgestellten Flugzeugen am JFK Airport in New York gezeigt. Die Düsentriebwerke der Jets, so berichten die Stimmen, seien bevorzugte Nistplätze der Vögel geworden: »Als wollten sie daran erinnern, dass die einfache Ausflucht aus dem Labyrinth, der Abflug, die Reise, so lange ein Irrweg ist, wie er nicht allen offensteht.«

Ein Himmelstagebuch

Mit meinem zweiten Beispiel einer Performance während der Pandemie möchte ich nun auf das Thema Fluglärm zurückkommen. Einen Monat nach LIGNAs Videowalk am Flughafen wurde im Frankfurter Künstlerhaus Mousonturm während des Festivals This is not Lebanon die Lecture Performance Air Pressure. A Diary of the Sky des britisch-arabischen Künstlers Lawrence Abu Hamdan uraufgeführt. Es geht in dieser Performance um Flugbewegungen und Manöver der israelischen Luftstreitkräfte über dem Libanon und damit tatsächlich überwiegend um Fluglärm und weniger um die Pandemie. Der Programmtext des Mousonturms liest sich folgendermaßen:

Die COVID-Pandemie brachte auch im Libanon den Luftverkehr zum Erliegen. Dennoch nahm der Fluglärm über Beirut drastisch zu. Auf dem Höhepunkt des Lockdowns überflogen täglich bis zu fünfzig israelische Überschall-Jets und Drohnen die Stadt. Die Flughöhe lässt vermuten, dass nicht Überwachung und Aufklärung der Zweck ihrer Präsenz sind, sondern die Produktion von Lärm selbst.28

Im Saal des Mousonturms saßen die Zuschauenden, in Abständen und mit 3G-Regelung, und sahen und hörten die ersten zehn Minuten der Performance zunächst einmal nur die lärmenden Flugobjekte selbst. Abu Hamdan, der früher einige Jahre lang selbst in Beirut gelebt hatte, beauftragte in der Pandemie Freund*innen und Kolleg*innen, ein Himmels-Tagebuch zu führen und jeden Tag die israelischen Kampfjets und Drohnen bei ihren Manövern zu filmen. Nach zehn Minuten erhebt sich der Künstler von einem der Sitze im Publikum und fängt an zu berichten:

May 2020: 147 violations of Lebanese air space by the Israeli Air Force. A hundred unmanned aerial vehicles, 46 fighter jets and one drone. Total flight time: 511 hours and 45 minutes. 176 million 745 thousand decibels launched. June 2020: 191 violations of Lebanese air space by the Israeli Air Force. 147 unmanned aerial vehicles, 38 fighter jets, five drones and one balloon. Total flight time: 703 hours and 47 minutes. 224 million 968 thousand 500 decibels launched.29

Abu Hamdan, der im Umfeld von Eyal Weizman und Forensic Architecture am Goldsmith College in London bekannt geworden ist, bezeichnet seine Arbeiten unter anderem als »Earwitness Theatre«.30 Es geht um ein Bezeugen von und durch Sound – in diesem Fall das Bezeugen einer aggressiven, einschüchternden und internationales Recht brechenden Politik der Luft durch das israelische Militär.31 Der aufgezeichnete Sound, vielmehr noch als die Bilder, bezeugt eine bestimmte Art psychologischer Kriegsführung, deren Daten offiziell vom libanesischen Verteidigungsministerium täglich den Vereinten Nationen mit der genauen Anzahl der Überflüge und der Schallbelastung gemeldet werden und öffentlich einsehbar sind. Jeder Überflug ist ein Bruch der UN-Resolution 1701, die nach dem Libanon-Krieg 2006 verabschiedet wurde. Die Menschen in Beirut sind den Fluglärm zwar gewöhnt, sie kennen das Geräusch der Kampfjets und Drohnen und wissen um ihre eigene Verwundbarkeit. Viele haben inzwischen, behauptet Abu Hamdan, ein genaues Gehör entwickelt, um die unterschiedlichen Flugzeugtypen voneinander zu unterscheiden. Trotzdem trifft diese Art kalter, aber keineswegs leiser Krieg Israels gegen die Hisbollah und ihre Sympathisant*innen alle Bewohner*innen Beiruts gleichermaßen. An einer Stelle zitiert Abu Hamdan aus einer der wenigen weltweit durchgeführten empirischen Studien über gesundheitliche und physiologische Langzeitfolgen durch Lärm von Tieffliegern. Demnach nimmt das Risiko eines erhöhten Blutdrucks und Pulses durch die Gewöhnung an Tiefflieger mit der Zeit nicht etwa ab, sondern sogar zu, und zwar selbst dann, wenn sie in weiter Entfernung zu hören sind. Die Studie wurde im Jahr 1990 nicht irgendwo, sondern in Haifa durchgeführt, 140 Kilometer Luftlinie von der libanesischen Grenze entfernt. Nicht das Flugzeug, sondern der Fluglärm wird im Libanon, so die These des Ohrenzeugens Abu Hamdan, gezielt als Waffe eines sonic war gegen die Bevölkerung eingesetzt.32

Der Performer Lawrence Abu Hamdan steht rechts auf der Bühne vor einer Leinwand.

Das Foto ist aus der Perspektive des Zuschauerraums aufgenommen. Der Raum ist sehr dunkel, das Publikum von hinten nur schemenhaft zu erkennen. Die Bühne ist nur wenig ausgeleuchtet. Abu Hamdan, ein Mann in dunkler Hose und grau-meliertem Hemd und mit Brille, steht auf der rechten Bühnenseite vor der Leinwand, die auf der Bühne gespannt ist. Sie ist nur in Umrissen zu erkennen, das gezeigte Bild ist dunkel, bis auf einen Lichtfleck links oben am dunklen Nachthimmel. Abu Hamdan trägt eine dunkle Hose und ein grau-meliertes Hemd sowie eine Brille. In der Hand hält er ein Mikrofon und steht aus der Perspektive des Betrachters seitlich, der Leinwand zugewandt.

Aber auch Lawrence Abu Hamdan setzt bei seiner Lecture Performance den Sound der Jets gewissermaßen gegen das Publikum ein. Während er redet, schwillt der Lärm einmal vorübergehend für circa eine Minute so sehr an, dass die Worte des Künstlers, während er weiterspricht, nicht mehr zu verstehen sind. Das Wort wird vom Lärm so verdrängt, als gelte es, den Diskurs mittels Schalls zum Schweigen zu bringen. Zugleich ist der Lärm für die Zuhörenden im Theater eine Erinnerung daran, dass die auch in Deutschland beklagten Maßnahmen gegen die Pandemie vergleichsweise geringe Probleme darstellen gegenüber der permanent empfundenen Bedrohung, die man im Nahen Osten tagtäglich spüren kann, wohlgemerkt ebenso auf israelischer Seite, wenn auch anders.

Mitte Mai 2021 jedoch, so Abu Hamdan, war der Himmel über Beirut plötzlich still. Kein Kampfjet, keine Drohne war mehr zu hören. Doch das Aufatmen über die Ruhe am Himmel hatte für die Libanes*innen einen ganz anderen, bitteren Beigeschmack als bei mir zu Hause in Mainz, bedeutete die Stille in Beirut doch nichts anderes, als dass die israelischen Streitkräfte in genau jenem Moment Gaza bombardierten, nachdem die Hamas in den Tagen zuvor hunderte Raketen auf Israel abgefeuert hatte. Auch Stille oder Abwesenheit von Sound kann insofern etwas bezeugen, in diesem Fall, dass der Krieg gerade woanders stattfindet und reale Todesopfer fordert. »Some bodies are simply considered expendable.«

Schluss

Ziel meiner Überlegungen war es, mir einige Gedanken über Fluglärm und Flugreisen in der Pandemie zu machen, zum einen, weil nicht nur Isolierung und Homeoffice, sondern auch die plötzliche Abwesenheit von Flugreisen und Fluglärm die Pandemie geprägt hat und die Kulturgeschichte des Fliegens insgesamt in dieser Krise in eine neue Phase eingetreten ist, zum anderen, weil ich zwei bemerkenswerte Videoperformances in der Pandemie besucht habe, die sich thematisch und ästhetisch mit Flughäfen und Fluglärm in einer höchst ambivalenten, kritischen Art und Weise auseinandersetzten. Nun könnte man meinen, dass diese beiden Arbeiten der eigentlichen Fragestellung dieses Bandes – dem Wandel der performativen Künste in der Pandemie – nicht sonderlich viel Neues beizufügen hätten. Videowalks und Lecture Performances gab es schließlich schon lange vor der Pandemie. Beim zweiten Blick fällt jedoch auf, dass beide Arbeiten neben der Thematisierung des Fliegens noch etwas teilen, was die Pandemie in dramaturgischer Sicht durchaus als dress rehearsal für die Klimakrise erscheinen lässt. In beiden Fällen haben in Europa lebende Künstler*innen mit internationalen Partner*innen kollaboriert und Videomaterial in anderen Ländern gewonnen, ohne in das jeweilige Land reisen zu müssen. Sie haben das Filmen delegiert und von Recherchen vor Ort profitiert. Es besteht wohl keine Frage, dass die CO2-Bilanz dieser Videoperformances weitaus geringer ausfiel, als wenn sie vor der Pandemie verwirklicht worden wären. Insofern können Performances während der Pandemie womöglich tatsächlich als zukunftsweisend betrachtet werden, nämlich als Probe für die notwendige Einsparung von CO2 in Kunst und Kultur. Denn es ist offensichtlich, dass alle Bereiche der Gesellschaft in Bezug auf Nachhaltigkeit umdenken müssen und insofern gerade auch die Entwicklungen im Bereich einer ökologischen Dramaturgie33diesbezüglich neue Möglichkeiten offenbaren. So hat die Kulturpolitikerin und Kuratorin Adrienne Goehler eindringlich darauf hingewiesen, dass die Pandemie für Kunst und Kultur als Chance gesehen werden muss, nachhaltiger zu werden:

Die Kunst wird sich auf vielfältige Weise neu sortieren müssen. Sich des großen Koordinatensystems bewusst werden, in dem sie steht, zwischen Klimawandel, damit zusammenhängenden Migrationsbewegungen, sich ausweitender sozialer Ungleichheit und maßlosem Ressourcenverbrauch. [Denn] dort, wo die Menschen Bedrohung, Angst und Armut ausgesetzt sind, wo sie mit ihren Fähigkeiten oder mit ihrem Wunsch, zu gestalten und nützlich zu sein, nicht gefragt sind, erodiert die Basis von Sicherheit, von Empathie für die anderen, für die sie umgebende Welt, für den Planeten.34

Vielleicht hilft ein solcher Appell in der Pandemie ja ein Stück weit, in Kunst und Kultur tatsächlich neue und nachhaltige Wege einzuschlagen, sodass auch in Zukunft an so manchen stillgelegten Flughäfen Performances stattfinden können; die Anwohnenden würden dies gleich auf doppelte Weise begrüßen.

1 Gerade zu Beginn der Pandemie sind einige aufschlussreiche philosophische und sozialwissenschaftliche Texte zur neuen raumzeitlichen Erfahrung der Pandemie entstanden. Ich möchte hier nur drei erwähnen: erstens die präzise und differenzierte Betrachtung der Pandemie in Bezug auf Foucaults Begriff der Biopolitik und seine Beispiele der Lepra, der Pest und der Pocken durch den Historiker Philip Sarasin (vgl. Sarasin, Philip: »Mit Foucault die Pandemie verstehen?«, in: Geschichte der Gegenwart, 25. März 2020, https://geschichtedergegenwart.ch/mit-foucault-die-pandemie-verstehen/ (Abruf: 12. April 2022), zweitens zur Ausdifferenzierung und Konkurrenz verschiedener Teilsysteme der Gesellschaft in der Pandemie die Beobachtungen des Systemtheoretikers und Soziologen Rudolf Stichweh (vgl. Stichweh, Rudolf: »Simplifikation des Sozialen. Durch die Corona-Pandemie wird die Weltgesellschaft einer unbekannten Situation ausgesetzt. Was passiert, wenn alle Funktionssysteme zeitweilig einem einzigen Imperativ folgen?«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. April 2020, S. 9) und drittens die Betrachtungen der Pandemie durch den Soziologen Hartmut Rosa als einer Zeit der Erschöpfung und Energielosigkeit bei zeitgleicher Beschleunigung der Datenströme (vgl. Rosa, Hartmut: »Die Umwege fehlen jetzt. Corona hat das Hamsterrad des Lebens gebremst, trotzdem sind wir rastloser«, in: taz am Wochenende, 24. April 2021, https://taz.de/Soziologe-Hartmut-Rosa-im-Gespraech/!5763329/ (Abruf am 12. April 2022). Dass in Deutschland die welterklärenden Texte über die Pandemie in den renommierten Tages- und Wochenzeitungen genau wie die interviewten Experten für Virologie gerade im ersten halben Jahr der Pandemie fast ausschließlich weißen Männern vorbehalten waren, zeigt so ganz nebenbei, wie Krisen traditionelle Arbeitsteilungen und Wahrnehmungsmuster verstärken. So ging die Publikationstätigkeit von Frauen in der Wissenschaft offenbar massiv zurück, während die von männlichen Wissenschaftlern anstieg, was sich u. a. auf eine Doppelbelastung durch Homeschooling von Kindern, Care-Arbeit etc. zurückführen lässt. Am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung konnte dies in einer empirischen Studie für deutsche Wissenschaftler*innen nachgewiesen werden. Vgl. Hipp, Lena/Bünning, Mareike: »Parenthood as a driver of increased gender inequality during Covid-19? Exploratory Evidence from Germany«, in: European Societies 23 (2021), H. S1, 658 – 673.

2 Vgl. Barthes, Roland: »Der Jet-man«, in: ders. Mythen des Alltags, Berlin 2010, S. 121 – 123, hier S. 122. Barthes beschreibt insbesondere, wie das Fliegen, was einst mit Abenteuer assoziiert war, im Jet-Zeitalter für den Piloten zu etwas Gewöhnlichem wird – daher assoziiert er auch den Jet-man mit »Mäßigkeit, Genügsamkeit, Enthaltsamkeit«, was wiederum nur noch wenig mit dem zu tun hat, was man heutzutage unter Jetset versteht.

3 Gordon, Alastair: Naked Airport. A Cultural History of the World’s Most Revolutionary Structure, Chicago/London 2004.

4 Ebd. S. 174.

5 Tatsächlich taucht auch in Guy Debords Film La Societé du Spectacle (1973) an einer Stelle ein startender Düsenjet auf, er illustriert These 146 des (1967 veröffentlichten) Textes: »Die irreversible Zeit der Produktion ist zunächst das Maß der Waren. Daher ist die Zeit, die sich offiziell über die ganze Weite der Welt hin als die allgemeine Zeit der Gesellschaft behauptet, indem sie nur die spezialisierten Interessen bedeutet, aus denen sie gebildet wird, nur eine besondere Zeit.« Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels, Hamburg 1978, S. 31.

6 Vgl. Brecht, Bertolt: »Der Ozeanflug« in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 2. Stücke 2, Frankfurt a. M. 1967, S. 565 – 585.

7 Vgl. Gordon, Naked Airport, S. 181.

8 Bijsterveld, Karin: Mechanical Sound. Technology, Culture, and Public Problems of Noise in the Twentieth Century, Cambridge, Mass. 2008, S. 197f.

9 Lehmann, Gunther/Meister, Franz Joseph: Die Einwirkung des Lärms auf den Menschen. Geräuschmessungen an Verkehrsflugzeugen und ihre hörpsychologische Bewertung, Wiesbaden 1961.

10 Ebd., S. 42.

11 Vgl. Bijsterveld, Mechanical Sound, S. 216.

12 Vgl. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: »Das Glatte und das Gekerbte«, in: dies.: Tausend Plateaus, Berlin 1992, S. 658 – 694.

13 Verschiedene Pressemeldungen und Artikel bestätigen den weltweiten Trend eines Rebounds von Flugreisen und -tourismus. Vgl. etwa in der Washington Post: »Airlines bet on a travel rebound after omicron fades«, 20. Januar 2022, https://www.washingtonpost.com/transportation/2022/01/20/american-united-omicron-earnings/ (Abruf: 12. April 2022) oder auf der Flugindustrie-nahen Website Timesaerospace für den Asiatischen Raum und den Mittleren Osten »Air travel sees strong rebound in February 2022«, 8. April 2022 https://www.timesaerospace.aero/news/air-transport/air-travel-sees-strong-rebound-in-february-2022 (Abruf: 12. April 2022).

14 Latour, Bruno: »Is This a Dress Rehearsal?«, in: Critical Inquiry 47 (2020), Nr. 52, The Univ. of Chicago Press Journals, online https://www.journals.uchicago.edu/doi/full/10.1086/711428 (Abruf: 12. April 2022).

15 So setzt sich etwa der französische Choreograf Jérôme Bel seit einigen Jahren dafür ein, in der internationalen Tanz- und Festivalszene auf Flugreisen zu verzichten. In der Pandemie entstanden aufgrund der Reiserestriktionen spannende globale Kooperationen über Videokommunikation, wie sie auch Bel in seiner weltweiten Arbeit als Choreograf verwirklicht. So entwickelte LIGNA mit Choreograf*innen aus aller Welt bereits 2020 das internationale Radioballett Zerstreuung überall!, ohne dass diese für die Produktion anreisen mussten. Die philippinische Choreografin Aisa Jocsen entwickelte mit der Dramaturgin Anna Wagner und dem Künstlerhaus Mousonturm die äußerst spannende Zoom-Performance Manila Zoo, bei der das Publikum sich zwar im Theatersaal versammelte, die interaktive Tanz-Performance selbst aber in den Wohnungen der Tänzer*innen auf den Philippinen, in Singapur und in Belgien stattfand. Vgl. die Gespräche mit Ole Frahm und Anna Wagner in diesem Band.

16 Zu den Videowalks von Janet Cardiff siehe auch mein Buch: Wihstutz, Benjamin: Theater der Einbildung. Zur Wahrnehmung und Imagination des Zuschauers, Berlin 2007.

17 Janet Cardiff in: Schaub, Mirjam (Hg.): The Walk Book, Köln 2005, S. 4.

18 Augé, Marc: Nicht-Orte, München 2010, S. 97.

19 Ich bedanke mich an dieser Stelle bei LIGNA und insbesondere bei Ole Frahm für die Bereitstellung von Text und Bildmaterial von The Passengers.

20 Wehrle, Annika: Passagen-Räume, Grenzverläufe alltäglicher und performativer Praxis im Theater der Gegenwart, Bielefeld 2015, S. 17.

21 Augé, Nicht-Orte, S. 103.

22 Mau, Steffen: Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert, München 2021, S. 118.

23 Ebd., S. 154f.

24 Im Herbst 2021 kündigte das Berliner Lieferdienst-Unternehmen Gorillas hunderten Fahrradkurieren und begründete dies mit dem Streik der Beschäftigten. Vgl. https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/kuendigungswelle-bei-gorillas-mehrere-hundert-entlassungen-li.187059?pid=true (Abruf: 12. April 2022).

25 Lorey, Isabell: »Logistifizierung. Pandemie und Unplanbarkeit«, September 2021, https://transversal.at/blog/logistifizierungen (Abruf: 12. April 2022).

26 Ebd.

27 Halberstam, Jack [Judith]: In a Queer Time and Space. Transgender Bodies, Subcultural Lives, New York, 2005, S. 3.

28 Programmheft Künstlerhaus Mousonturm: Lawrence Abu Hamdan, Air Pressure, August 2021.

29 Zitiert nach einem Video der Lecture Performance, das mir der Künstler dankenswerterweise zur Verfügung gestellt hat. Es handelt sich um die Aufführung, die ich auch selbst am 27. August 2021 im Frankfurter Künstlerhaus Mousonturm besucht habe.

30 Vgl. http://lawrenceabuhamdan.com/earwitness-inventory (Abruf: 12. April 2022).

31 Ich möchte an dieser Stelle anmerken, dass mir die Komplexität des Israel-Palästina-Konflikts bewusst ist und die hier geschilderte Einschüchterungspolitik des israelischen Militärs in keiner Weise die Terrorangriffe der Hamas oder der Hisbollah verharmlosen oder relativieren soll.

32 Abu Hamdan bezieht sich hier implizit auf den Soundwissenschaftler Steve Goodman, dessen Studie Sonic Warfare die affektive und angsteinflößende Funktion sonischer Kriegsführung untersucht. Steve Goodman: Sonic Warfare. Sound, Affect, and the Ecology of Fear, Cambridge, Mass. 2011.

33 Siehe auch die Beiträge von Kai van Eikels und Maximilian Haas in diesem Band.

34 Goehler, Adrienne: »Wann, wenn nicht jetzt? Ein Zwischenruf von Adrienne Goehler«, in: Zellner; Juliane/Lobbes, Marcus/Zipf, Jonas (Hg.): transformers. digitalität, inklusion, nachhaltigkeit, Berlin 2021, S. 25 – 27, hier S. 25f.

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