Wir leben schon lange in einer Zeit mit Bestenlisten. Die wichtigsten Romane des ZwanzigstenJahrhunderts, die besten hundert Filme, was man in Europa unbedingt gesehen haben muss oder die sieben schönsten Fußballhymnen aller Zeiten. Solche Listen können über Rangwerte in dem jeweiligen Bereich informieren, sind immer Anregung, ihre Unvollständigkeit zu diskutieren, – oder dürfen in einem höheren Sinn von Kultur als schlichte Konsumentenberatung eingeschätzt werden. In der Welt des Theaters sind solche Bestenlisten weniger bekannt. Zwar veröffentlicht der Deutsche Bühnenverein jährlich eine Aufstellung der am meisten gespielten Stücke nach einem rein statistischen Modell, aber das interessiert nur Zahlenfüchse oder Leute, die darin aktuelle Trends ablesen wollen, die für die Arbeit der Theater nicht viel bedeuten.
Interessanter ist da schon die Frage nach dem Kanon von Stücken im Theater. Gibt es ihn überhaupt? Und falls ja, wer oder was hat ihn wie festgelegt und wie verändert er sich? Das waren einige Überlegungen, als die Redaktion anlässlich des Symposions „Vergiftetes Erbe – Brauchen wir einen Kanon?“ an den Münchner Kammerspielen den Schwerpunkt dieses Heftes in längeren Diskussionen entwickelte.