Auftritt
Radialsystem Berlin: Musik und Technikopulenz
„Quartett zum Quadrat“ nach Heiner Müller und zwei Streichquartetten von Leoš Janáček – Konzept, Regie, Kostüm Nicola Hümpel, Bühne und Videotechnik Oliver Proske, Musik Kuss Quartett
von Thomas Irmer
Assoziationen: Theaterkritiken Berlin Nico and the Navigators Radialsystem

Die Idee, Heiner Müllers im deutschsprachigen Raum oft inszeniertes Stück mit den zwei eher selten gespielten Streichquartetten von Leoš Janáček zu verbinden, wirkt abstrakt und verlockend zugleich. „Quartett“ ist ein Zwei-Personenstück, in dem ein Mann und eine Frau im unerbittlichen Geschlechterkampf noch zwei andere Frauen, die sie sich selbst einander im Geschlechtertausch vorspielen, bis der Mann sterbend in der Rolle einer Frau unterliegt – in Müllers spöttischer Selbsteinschätzung eine Mischung aus Jean Genets „Die Zofen“ und dem Peter-Alexander-Filmulk „Charleys Tante“ aus dem Jahr 1963. Janáčeks „Kreutzersonate“ wiederum geht auf eine Erzählung Tolstois zurück, in der Beethovens Sonate gleichen Titels die Begleitmusik einer Ehebruchsgeschichte ist, bei der der tschechische Komponist vor allem das Unglück der bestraften Frau empfunden hat. Beide gegensätzlich temperierten Stücke ins Quadrat zu setzen, wie es sich Andreas Hillger, Dramaturg von Nico and the Navigators, ausdachte, ist also ein gewaltiger Sprung oder eher Spagat.
Andererseits sind solche Kombinationen genau die Spezialität von Nico and the Navigators, um herkömmliche Aufführungsmodi spielerisch zu überwinden und Werke dabei aufzusprengen. So liegen zwei Figuren zunächst ineinander verknäuelt unter einer Gaze-Haube wie in einem Schlangenei, eine schräge Fläche darüber als beide verdoppelnden Spiegel. Das Kuss-Quartett von Jana Kuss (Violine) spielt dazu stehend den ersten Satz der „Kreutzersonate“ – die ganze Anordnung hochartifiziell kühl.
Mit dem Auftritt von Annedore Kleist als Merteuil und Martin Clausen als Valmont wird mit ihren Kostümen eine andere Note gesetzt. In Müllers Text erwägen sie, „ihre Felle aneinander zu reiben“, als Ausdruck für animalischen Sex. Nicola Hümpel hat die Merteuil mit Schlangenlederstiefeln und einem Fuchskragen kostümiert, wie ihn vor Jahrzehnten Rentnerinnen trugen, die sich keinen Pelzmantel leisten konnten. Clausens Valmont dagegen trägt eine Atze-Schröder-Pilotenbrille und eine Art Eisbärmantel als Zeichen seines abgehalfterten Verführerlebens. Sicher, Müllers Regie-Anweisung „ein Salon vor der Französischen Revolution, ein Bunker nach dem Dritten Weltkrieg“ lässt die Verortung der Figuren weitgehend offen, aber hier soll Trash das Innere hervorkarikieren, was wiederum in einem gewissen Gegensatz zu Müllers gewählt obszöner, alle Erniedrigungen feiernde Sprache steht. Dazu passend oder doch eher unpassend spielt Clausen am Ende halb lallend einen betrunken sterbenden Valmont.
Doch es gibt noch Ebenen anderen Formats. Wenn etwa Martin Buczko und Yui Kawaguchi als Tänzer und Tänzerin das andere Paar zum echten Quartett verdoppeln. Oder Paul Hübner an der Trompete und Lorenzo Riessler am Schlagwerk dem Kuss Quartett eine Klangwelt mit angespannt jazzigen Tönen gegenübersetzen. Disparatheit scheint somit das Prinzip.
Einen technisch visuellen Höhepunkt liefert Oliver Proskes Spiegelwand, die auch ein Screen für die Großaufnahmen der Gesichter von Valmont und Merteuil und außerdem Fenster in eine virtuelle 3D-Welt sein kann, in der der von Müller angeregte Bunker betreten werden kann – und in dem die beiden Tanzenden einmal ganz körperlich verschwinden. Sehr beeindruckend.
Diese technische und musikalische Opulenz führt allerdings nicht zu einer gründlichen Erkundung des Stücks, denn der Text ist hier nur noch Teil eines riesigen Apparats, der mit den Kameras auch die Spielweise der beiden Figuren zu ihnen hin erzwingt und die Musik dominant erscheinen lässt. Einen großen Schauwert hat das allemal, die immerhin fast zweieinhalb Stunden (wahrscheinlich die längste „Quartett“-Inszenierung, die es je gab) bremsen jedoch die Wucht, die von Müllers Stück ausgehen müsste.
Erschienen am 8.12.2025



















