Theater der Zeit

Jubeln

Rumms in der Ofenfabrik

Der Westflügel Leipzig feiert 15-jähriges Bestehen mit einer Premiere und einem kleinen Festival

In Leipzig hat sich der Westflügel als fester Ort für freies Figurentheater etabliert und macht seit 15 Jahren Programm. Mit 15 Inszenierungen blickte das Team nun Anfang Juni im Showcase Westflügel auf seine Arbeit zurück. Tobias Prüwer hat den Westflügel für double besucht und die Neu-Inszenierung „Der Reigen. Ein überaus schönes Lied vom Tod“ des Figurentheaters Wilde & Vogel mit Christoph Bochdansky und der Compagnie Off Verticality angesehen.

von Tobias Prüwer

Erschienen in: double 44: Regie? – Zwischen Autor*innenschaft und Außenblick (11/2021)

Assoziationen: Sachsen Puppen-, Figuren- & Objekttheater Lindenfels Westflügel

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„Was macht der Tod mit allem, was ihm lieb ist?“ – „Er lässt es frei.“ Einen melancholischen Moment später lacht der böse Kasper in Menschengestalt laut auf, treibt sein Spiel weiter, um endlich „rumms machen“ zu können. Ein Totenschädel neckt ihn, einen Totentanz später erfolgt ein Requiem, bevor der bissige Abend mit einem Achselzucken endet: „So ist das Leben.“ Im Sommer endlich konnte nach längerem Verschieben „Der Reigen. Ein überaus schönes Lied vom Tod“ im Westflügel gezeigt werden. Die Produktion, die Tanz mit Figurentheater und Live-Musik verbindet, ist ein schönes Beispiel für die kreative und integrative Kraft, die diesen Ort in Leipzig auszeichnet.

Seit 2006 dient der Westflügel als Produktionsort und wird auch bespielt. Anfangs mangels Heizung nur im Sommer, schließlich ganzjährig. In der ehemaligen Ofenfabrik fanden Japanische Figurentheatertage statt, dass Haus wurde auch schon mal zur Geisterbahn, zum Ort immersiver Rätselspiele und natürlich von ganz viel Figurentheater. In diesem Sommer nun galt es, diesen Ort – Corona-konform – zu feiern. Dafür fand das dreitägige Festival „Showcase“ drinnen wie draußen vor der Tür statt: buntes Treiben zwischen Maskenspiel und Solokonzert für einen Zuschauer, dämonischen Teufeleien und Vergänglichkeitstheater. Die Musikerin Gwen Kyrg gab ein Solokonzert für einen Zuhörer. Nur mit Mikro und Effektgerät ausgestattet, unternahm sie einen akustischen Hausbau. Sie hauchte und sang vom Häuslebau und schuf eine Gebäude in der Zuhörerimagination, das aber mit Verklingen wieder verschwand. Ebenfalls viel mit musikalischen Mitteln operierte „Songs for Alice“. Das Stück, das Wilde & Vogel 2011 im Westflügel erschufen, war in einer Special-Version zu erleben, in der zusätzliche Livemusiker (Schlagzeug, Gitarre, Trompete) den wilden Szenenwechsel aus „Alice im Wunderland“ unterstützten. 

Im Zentrum des Festivals stand die Premiere von „Der Reigen. Ein überaus schönes Lied vom Tod“, einer Koproduktion von Christoph Bochdansky, dem Figurentheater Wilde & Vogel und der Compagnie Off Verticality. Inhaltlich ist „Der Reigen“ einmal mehr eine Auseinandersetzung mit den letzten Dingen, der nicht nur Bochdansky schon länger verpflichtet ist. Die einzelnen Szenen beschäftigen sich mal mit der Materialität des Körpers, andere mit Flüchtigerem, etwas, was man Geist oder Seele nennen mag. Das Besondere dabei ist die Verschmelzung der Künste. So beeindruckt das Trio Off Verticality nicht nur durch seine extreme Körperlichkeit, sondern wird ins Spiel mit den Objekten einbezogen. Sie eignen sich im Raum herumliegende obskure Formen an, ziehen sie sich an wie einen wurmartigen Beinfortsatz oder ein Exoskelett, schleudern sie herum und erproben ihre Beweglichkeit. Michael Vogel zeigt einmal mehr, mit wie wenig Material er auszukommen vermag, um berührendes Figurenspiel zu geben. Einen filigranen Vogelmenschen, der an einem Rad von der Decke schwebt, erweckt er zum Leben. In einer anderen Szene ist Vogels Vermögen zu erleben, ganz hinter seine Figur oder Maske zurückzutreten, indem sein Körper ganz mit diesen verschmilzt. Christoph Bochdanky tritt ebenfalls in einer Doppelrolle auf. Als Figurenspieler, der Totenschädel – unter anderem eine Klappmaulpuppe – führt, mimt er auch höchstselbst einen bösen Kasper, der derbe Lieder im Bänkelsang anstimmt. Überhaupt: die Musik. Über allem, ja, alles verbindend, liegt Live-Musik, die Charlotte Wilde und Stefan Wenzel auf verschiedenen Instrumenten erzeugen. Da ist auch manch skurriler Gesang dabei, der dem morbiden Thema etwas den Ernst nimmt. Man kann den Abend als Volkstheater im positiven Sinne bezeichnen, ein Theater, das mit vielerlei Mitteln sein Publikum anspricht. Genregrenzen kümmern die Künstler nicht, es geht ihnen einzig um das Zum-Ausdruck-Bringen. In diesem Sinn ist „Der Reigen“ eine konsequente Arbeit, die für den Westflügel in Gänze steht.

Erwähnter Stefan Wenzel bildet sonst mit Samira Lehmann das Figurentheaterduo Lehmann und Wenzel. Sie sind ein Beispiel für die Anziehungskraft des Ortes. Beide zogen nach dem Studium in Stuttgart wegen der Möglichkeiten im Westflügel eigens nach Leipzig. Auch die Spielerin Franziska Merkel gehört schon lange zu den Stammkünstlern. Andere folgten ihnen oder haben ihren Umzug nach Leipzig angekündigt. So wuchs und wächst eine lokale Szene heran rund um den Westflügel, der zudem zu einem Knotenpunkt des internationalen Austauschs geworden ist. Für Michael Vogel ist der Westflügel auch eine Art Prävention, damit sich das Figurentheater nicht in die Nische zurückzieht, sich als „kleiner Familienclub“ gefällt. Deshalb war er immer als eine Schnittstelle mit anderen Künsten angelegt. Einen Raum zu schaffen, wo man sich unorganisiert einfach mal treffen kann, wo die damals noch klarer unterscheidbaren Ansätze der Hochschulen in Berlin und Stuttgart zum Amalgam werden könnten, das stand als Ursprungsidee hinter dem Westflügel. „Ein Ort, welcher der Szene Not tun könnte, wo etwas entstehen kann, was anderswo so nicht realistisch ist“, formuliert es Vogel. „Es war ja nicht der Plan, ein Theaterhaus zu führen, sondern eher zu fragen, wie Menschen zum Theaterspiel zusammenfinden und warum?“

Und das soll so bleiben. Künftig sollen Gastspiele und Kollaborationen nicht nur an einem Wochenende stattfinden, sondern an zwei, erklärt Pressesprecher Matthias Schiffner. „Das gibt eine andere Ruhe. Statt schnell aufzubauen, drei Abende zu spielen und abzureisen, besteht so die Möglichkeit zu mehr gegenseitigem Austausch. Das schafft auch Querverbindungen in die Stadt. Auch die Mund-zu-Mund-Propaganda ist in dieser Hinsicht nicht zu unterschätzen und Menschen haben größere Chancen, ein Stück nicht zu verpassen.“ Zudem setzt die Westflügel-Crew weiter auf Internationalität. „Figurentheater entwickelt sich permanent weiter und wir sind mit dabei“, sagt Matthias Schiffner. „Wir schauen, wie andere internationale Produktionszentren arbeiten und werden, sobald das wieder breiter möglich ist, die Zusammenarbeit mit internationalen Künstlern fortsetzen.“ – www.westfluegel.de

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