Stanislawski
Das deutsche Stanislawski-Buch
von Herbert Jhering
Erschienen in: Theater der Zeit: Surrealismus und was man dafür hält (12/1946)
Assoziationen: Buchrezensionen Schauspiel
Vor kurzem wurde in einer Zeitung darüber diskutiert, ob dem Theaterzettel einführende Erläuterungen beizugeben seien, weil das Publikum heute sonst manchen modernen und sogar klassischen Stücken hilflos gegenüberstehe. Die Frage ist freilich einseitig gestellt. Der Zuschauer versteht gewiß manche Vorstellung nicht. Das braucht aber nicht gegen ihn, nicht gegen sein Auffassungsvermögen oder seine Bildung zu sprechen. Denn er bekommt ja meistens überhaupt nicht die Stücke zu sehen, sondern im günstigsten Falle Paraphrasen über das Werk oder Variationen. Den Inhalt des Schauspiels, seine Vorgänge, seine Handlung lernt er nicht kennen. Der Regisseur setzt Ablauf und Geschehen eines klassischen Dramas meistens als bekannt voraus und inszeniert seine Bildeinfälle, seine Ideen, seine Randglossen, die oft nichts anderes als die Mode gewordenen Gedanken und Einfälle der Vorgänger sind. Was soll aber ein Publikum, das noch niemals einen Schiller oder Shakespeare oder Hebbel gesehen hat, mit einer Interpretation anfangen, wenn es gar nicht weiß, was interpretiert wird? Da nun diese individualistische oder scheinindividualistische Methode auch auf die unbekannten und problematischen modernen Werke übertragen wird, ist die Verwirrung vollkommen. Der Schauspieler wird irritiert und davon abgebracht, die Entwicklung einer Gestalt im Fortgang der Handlung wiederzugeben. Stilistische Nuancen verdrängen Gehalt und Form. Der Regisseur, der Anouilh inszenieren...