Theater der Zeit

Magazin

Neue Horizonte für den Neuen Zirkus

Das CircusDanceFestival in Köln treibt die Gattungsvielfalt voran

von Tom Mustroph

Erschienen in: Theater der Zeit: BRACK IMPERieT – „Hedda Gabler“ von Vegard Vinge und Ida Müller in Oslo (09/2022)

Assoziationen: Theaterkritiken Zirkus Tanz

Jörg Müller in seiner Performance „Noustube“ beim CircusDanceFestival in Köln.
Jörg Müller in seiner Performance „Noustube“ beim CircusDanceFestival in Köln.Foto: Franziska Schardt

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Das CircusDanceFestival in Köln stellte experimentelle Zirkusformate vor und scheute sich dabei nicht davor, auf die grüne Wiese zu gehen und selbst Manegen zu benutzen.

Mit der geförderten Kunst ist es oft ein Kreuz. Um die Förderwürdigkeit nachzuweisen, werden gern Kategorien aufgebaut. Die U- und die E-Kunst waren solche Begriffe. Auch wie sich das Literaturtheater im späten 19. Jahrhundert von anderen Kunstformen wie etwa dem Zirkus hinwegnobilitierte, gehört in diesen Erzählstrang. Mirjam Hildbrand zeichnet diese Entwicklung im von Theater der Zeit herausgegebenen Band „Circus in flux“ (Arbeitsbuch 2022) recht plastisch nach. Und beim Neuen Zirkus, der sich so langsam auch hierzulande zu einer ernsthaften Kunstform entwickelt, betonen manche Protagonist:innen gern vor allem das, was sie vom herkömmlichen Zirkus trennt – und leiten so eine neuerliche Aufwertungsbewegung ein.

Angenehmerweise war beim Circus-DanceFestival in Köln, einem zentralen Ort der Entwicklung des Neuen Zirkus in Deutschland, von solchen Abgrenzungsmechanismen nichts zu spüren. Im Gegenteil, neue Orte wurden mit neuen Spielformen erobert. Das Festival fand in weiten Teilen draußen statt, auf einem Parkgelände im Kölner Norden, nahe am Rhein. Freizeitfußballer kickten auf der Wiese. Ihre Rufe und die Geräusche des Balls wehten herüber zu den offenen Bühnen des Festivals.

„Zirkus schreibt sich hier in einen öffentlichen Raum ein, in ein Parkgelände“, beobachtete beglückt Tim Behren, Kurator des Festivals und Mitbegründer der zwischen zeitgenössischem Zirkus und zeitgenössischem Tanz oszillierenden Gruppe Overhead Project. „Die Leute können vorbeikommen und schauen. Sie entdecken, dass der Luftraum bespielt wird, bleiben stehen, staunen“, meinte er zu Theater der Zeit. Die Leute staunten, wie Körper durch die Luft flogen, wie andere Körper in eine mehrere Meter hohe Glasröhre eintauchten und dort aquatische Choreografien vollführten.

Ja, der Neue Zirkus kam an, als er unter freiem Himmel gezeigt wurde. Und er überzeugte gleichfalls im angestammten Raum, dem Rund der Manege. Dort wurden Arbeiten gezeigt, die wie Julian Vogels „China Series“ ursprünglich für den Galerieraum konzipiert wurden, oder wie „My Body is Your Body“ von Overhead Project, das für Bühnenräume mit Tanzboden gedacht war. Hieraus lassen sich zwei Tendenzen ableiten: Der Neue Zirkus sucht sich einerseits neue Orte. „China Series“ war eine Hybride aus Ausstellung, Installation und tänzerisch-akrobatischer Bespielung eines Diabolos, das aus Porzellan gefertigt war. Das gesamte Arrangement war gedacht für den white cube. Vogel markierte darin einen Kreis als Spielfläche, der sich wiederum auf die Zirkusherkunft bezog. Jetzt aber gab es den doppelten Kreis, denn „China Series“ fand wieder in der Manege statt. In den historisch alten Ort, ein Zirkuszelt, zurückzukehren, zeugt von neu gewonnener Souveränität in der jungen Kunstform.

Als Basis für die zukünftige Entwicklung wurde vom Festival aus ein Kooperationsprojekt zwischen dem Zentrum für Zeitgenössischen Tanz Köln und der Brüsseler Zirkushochschule ESAC initiiert. Behren, der selbst Absolvent der ESAC ist und sich in der Kölner Tanzszene als Choreograf verortet, sieht ohnehin mehr Affinitäten zwischen Tanz und Zirkus als zwischen Theater und Zirkus. „Beide sprechen vor allem über den Körper“, sieht er als Gemeinsamkeit. Der Zirkus arbeite aber mehr in der Vertikalen, dem Luftraum, und suche das Risiko, während der Tanz sich auf die Horizontale ausrichte.

Gespannt darf man sein, ob und wie sich die vertikale und die horizontale Bewegungskunst in Zukunft beeinflussen werden. Im Theater gibt es schon länger Annäherungen. Bereits vor vier Jahren ließ die Regisseurin Ola Mafaalani im Berliner Ensemble in „Kinder des Paradieses“ Akrobaten und Jongleure auftreten. Die Berliner Musiktheatergruppe glanz&krawall arbeitete in diesem Sommer im „Wendecircus“ gleich mit einem kompletten Familienzirkus zusammen. Dies spricht für einen doppelgleisigen Entwicklungsweg. Er besteht aus neuen Stücken und Spielformaten des zeitgenössischen Zirkus selbst und dem Aufnehmen zirzensischer Elemente durch Theater, Oper und Tanz. //

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