Essay
1932 oder 1946?
von Herbert Jhering
Erschienen in: Theater der Zeit: Zeittheater oder Theater der Zeit? (07/1946)
Assoziationen: Theatergeschichte Debatte
Es würde zu bedenklichen Trugschlüssen führen, das Theater da wieder anfangen lassen zu wollen, wo es 1933 aufgehört hat. Wir müssen im Gegenteil die Krisenerscheinungen erkennen, die schon in den letzten Jahren vor 1933 das Theater zerrissen, seine Entwicklung schwankend machten und von den Auflösungstendenzen der Zeit nicht zu trennen waren. Der innere Kampf, der die Arbeiterklasse zerfleischte, spiegelte sich in den Kämpfen zwischen der alten und jungen Volksbühne wider und in den Auseinandersetzungen, die sich um das allmählich erstarrende Zeitstück und den Abnutzungsprozeß entspannen, dem sich das klassische Repertoire durch schematische Wiederholungen unterwarf. Die Unruhe der Ideologien war zugleich eine Unruhe des Betriebes. Der Kapitalismus übersteigerte sich in den zusammengerafften Theaterkonzernen der Saltenburg- und Rotter-Bühnen. Ein Fabrikbetrieb entstand, der ein Theater nach dem anderen verschlang. Reinhardt war oft auf Gastspielreisen. Im Staatstheater wechselten die Intendanten. Jede ruhige Ensemblebildung, jede organische Entwicklung hatte aufgehört.
Es war nur natürlich, daß diese Schwierigkeiten auch den Stil der Aufführungen beeinflußten. Denn der Expressionismus, der den Naturalismus ablöste, hatte abgewirtschaftet, ohne eine Grundlage zu hinterlassen, auf der weitergebaut werden konnte. Er war der Anreger und zugleich Vollender aktivierender Vorstellungen gewesen, wie Ernst Tollers „Wandlung“ in der Tribüne unter der Regie Karl Heinz Martins und...