IV. Bertolt Brecht oder Der moderne Schauspieler
Schauspielerausbildung
Quelle 13
von Bertolt Brecht
Erschienen in: Lektionen 3: Schauspielen Theorie (12/2010)
Assoziationen: Theatergeschichte Schauspiel
Elementarregeln für Schauspieler
-
Bei der Darstellung der Greise, der Schurken und der Wahrheitsager muß man nicht mit verstellter Stimme sprechen.
-
Man muß den Figuren von Ausmaß eine Entwicklung geben. Pawel Wlassow in „Die Mutter“ zum Beispiel wird zum Berufsrevolutionär. Aber zu Beginn ist er noch keiner, darf also nicht als solcher gespielt werden.
-
Man muß nicht Helden dadurch charakterisieren, daß man sie niemals erschrecken, Feiglinge dadurch, daß man sie niemals mutig sein läßt und so weiter. Charakteristika in einem Wort wie Held oder Feigling sind recht gefährlich.
-
Beim Schnellsprechen darf man nicht laut, beim Lautsprechen nicht pathetisch werden.
-
Wenn der Schauspieler den Zuschauer rühren will, muß er nicht einfach selber gerührt sein. Überhaupt geht es immer auf Kosten der Realistik, wenn der Schauspieler „auf Mitleid spielt“ oder auf Begeisterung und so weiter.
-
Die meisten Figuren auf der deutschen Bühne sind nicht aus dem Leben gegriffen, sondern aus dem Theater. Da ist der Theatergreis, der mummelt und tattert, der Theaterjüngling, der Feuer hat oder kindlich strahlt, die Theaterkokotte, die mit verschleierter Stimme spricht und die Hüften wiegt, der Theaterbiedermann, der poltert und so weiter.
-
Soziales Gefühl ist für den Schauspieler unbedingt nötig. Er ersetzt jedoch nicht das Wissen um soziale Zustände. Und das Wissen um soziale Zustände ersetzt nicht das ständige Studium derselben. Für jede Figur und für jede Situation und für jede Aussage ist neues Studium nötig.
-
Ein Jahrhundert lang wurden die Schauspieler nach dem Temperament ausgesucht. Nun ist Temperament nötig, besser gesagt: Vitalität; aber nicht, um den Zuschauer mitzureißen, sondern um die Steigerung zu erreichen, die für die Figuren, Situationen und Aussagen auf der Bühne nötig ist.
-
|174|Bei mittelmäßigen Stücken ist es mitunter nötig, „aus nichts etwas zu machen“. Aber bei den guten Stücken muß man aus allem nicht mehr herauspressen, als drinnen ist. Das Nichterregte darf nicht erregend, das Ungespannte nicht spannend gemacht werden. In den Kunstwerken gibt es – darin sind sie lebendige Organismen – ein Auf und Ab. Dies ist ihnen zu belassen.
-
Das Pathos betreffend: Wenn es sich nicht darum handelt, einen pathetischen Menschen abzubilden, muß man mit dem Pathos sehr vorsichtig sein. Es gilt der Satz: Wärst nit aufigstiegn, wärst nit abigfalln.
Gestik
Die Gestik behandelnd, lassen wie zunächst die Pantomime außer acht, da sie ein gesonderter Zweig der Ausdruckskunst ist, wie das Schauspiel, die Oper und der Tanz. In der Pantomime wird alles ohne Sprache ausgedrückt, auch das Sprechen. Wir aber behandeln die Gestik, die im täglichen Leben vorkommt und im Schauspiel ihre Ausformung erfährt. Dann gibt es einzelne Gesten. Solche, die anstelle von Aussagen gemacht werden und deren Verständnis durch Tradition gegeben ist, wie (bei uns) das bejahende Kopfnicken. Illustrierende Gesten, wie diejenigen, welche die Größe einer Gurke oder die Kurve eines Rennwagens beschreiben. Dann die Vielfalt der Gesten, welche seelische Haltungen demonstrieren, die der Verachtung, der Gespanntheit, der Ratlosigkeit und so weiter.
Wir sprechen ferner von einem Gestus. Darunter verstehen wir einen ganzen Komplex einzelner Gesten der verschiedensten Art zusammen mit Äußerungen, welcher einem absonderbaren Vorgang unter Menschen zugrunde liegt und die Gesamthaltung aller an diesem Vorgang Beteiligten betrifft (Verurteilung eines Menschen durch andere Menschen, eine Beratung, ein Kampf und so weiter) oder einen Komplex von Gesten und Äußerungen, welcher, bei einem einzelnen Menschen auftretend, gewisse Vorgänge auslöst (die zögernde Haltung des Hamlet, das Bekennertum des Galilei und so weiter), oder auch nur eine Grundhaltung eines Menschen (wie Zufriedenheit oder Warten). Ein Gestus zeichnet die Beziehungen von Menschen zueinander. Eine Arbeitsverrichtung zum Beispiel ist kein Gestus, wenn sie nicht eine gesellschaftliche Beziehung enthält wie Ausbeutung oder Kooperation.
Der Gesamtgestus eines Stückes ist nur in vager Weise bestimmbar, und man kann nicht die Fragen angeben, die gestellt werden müssen, ihn zu bestimmen. Da ist immerhin die Haltung des Stückeschreibers zum Publikum. Belehrt er? Treibt er an? Provoziert er? Warnt er? Will er objektiv sein? Subjektiv? Soll das Publikum zu einer guten oder schlechten Laune überredet werden oder soll es nur daran teilnehmen? Wendet er sich an die Instinkte? An den Verstand? An beides? Und so weiter und so weiter. Dann hat man die Haltung einer Epoche, der des Stückeschreibers und derjenigen, in die das Stück verlegt ist. Tritt zum Beispiel der Stückeschreiber repräsentativ auf? Tun es die Figuren des Stücks? Dann gibt es den Abstand zu den Vorgängen. Ist das Stück ein Zeitgemälde oder ein Interieur? Dann gibt es, bei diesem Abstand oder jenem, den Stücktypus. Handelt es sich um ein Gleichnis, das etwas beweisen soll? Um die Beschreibung von Vorgängen ungeordneter Art? – Dies sind Fragen, die gestellt werden müssen, aber es müssen noch mehr Fragen gestellt werden. Und es kommt darauf an, daß der Fragende keine Furcht vor einander widersprechenden Antworten hat, denn ein Stück wird lebendig durch seine Widersprüche. Zugleich aber muß er diese Widersprüche klarstellen und darf nicht etwa dumpf und vage verfahren in dem bequemen Gefühl, die Rechnung gehe ja doch nicht auf.
Um den Gestus einer einzelnen Szene zu beleuchten, wählen wir die erste Szene des dritten Bildes von „Mutter Courage und ihre Kinder“, und zwar in zwei Auffassungen. Die Courage tätigt einen unredlichen Handel mit Heeresgut und ermahnt dann ihren Sohn beim Heer, seinerseits immer redlich zu sein. Die Weigel spielte diese Szene so, daß die Courage ihrem Sohn bedeutet, dem Handel nicht zuzuhören, da er ihn nichts angeht. In der Münchner Aufführung nach dem Berliner Modell spielte die Giehse die Szene so, dass die Courage dem Zeugmeister, der den Sohn sehend, zögert, weiter zu reden, mit einer Handbewegung anweist, weiterzusprechen, da der Sohn das Geschäft ruhig hören kann. Bleibt die dramaturgische Funktion der Szene erhalten: In einem korrupten Milieu wird ein junger Mensch aufgefordert, unverbrüchlich redlich zu handeln. Der Gestus der Courage ist nicht derselbe.
Bertolt Brecht: „Schauspielerausbildung“, in: ders.: Schriften zum Theater, Band 6, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1964, S. 200 – 202, S. 212 – 215