Auftritt
Internationales Sommerfestival Kampnagel: Telling stories to survive
„NÔT“ von Marlene Monteiro Freitas – Choreografie Marlene Monteiro Freitas, Choreografische Assistenz Francisco Rolo, Bühne Yannick Fouassier, Marlene Monteiro Freitas, Kostüme Marlene Monteiro Freitas, Marisa Escaleira
von Leena Schnack
Assoziationen: Tanz Theaterkritiken Dossier: Festivals Marlene Monteiro Freitas Kampnagel

Den künstlerischen Auftakt für das diesjährige Internationale Sommerfestival auf Kampnagel unter dem Motto Room to Dream, inspiriert von den Memoiren der verstorbenen Filmregielegende David Lynch, bildet die Deutschlandpremiere von Marlene Monteiro Freitas’ „NÔT“, eine Auseinandersetzung mit der Rahmenhandlung von „Alf layla wa-layla“, auf Deutsch „1001 Nacht“. Das neueste Tanzstück der kapverdischen Choreografin, die im kommenden Jahr zusammen mit Florentina Holzinger das Artistic Board der Berliner Volksbühne bilden wird, prämierte Anfang Juli in Avignon und widmet sich dem Träumen unter restriktiven Bedingungen.
Sultan Shahryar wird von seiner Frau betrogen und aus Angst vor der Wiederkehr des Ehebruchs entscheidet er sich, jede Nacht neu zu heiraten, die entsprechenden Frauen zu vergewaltigen und am darauffolgenden Morgen hinrichten zu lassen. Der Kreislauf der Gewalt wird erst durch Scheherezade durchbrochen, die Shahryar Nacht für Nacht mit spannenden Geschichten und Cliffhangern fesselt, und so immer wieder ihrem eigenen Tod entgehen kann. In der Rahmenhandlung von „1001 Nacht“, sichert das kontinuierliche Geschichtenerzählen das Überleben.
Daran anknüpfend entwirft Freitas gemeinsam mit dem Szenografen Yannick Fouassier einen Raum fürs Erzählen und Träumen, der sich dem Publikum als disruptives Tableau zwischen Gefangenschaft und Entgrenzung präsentiert. Zwischen Gitterwänden, die an Zäune und Metallbetten, die an Seziertische denken lassen, über Wäschewannen, blutverschmierte Deckenbündel und Nachttöpfe hinweg formieren sich acht Tänzer:innen in immer neuen Konstellationen, die abwechselnd zwischen Karneval, Militärparade und groteskem Puppenspiel changieren. So bildet sich – ganz im Sinne von „1001 Nacht“ – eine unabgeschlossene Dramaturgie, in der gewaltvolle Bilder von alltäglicher Unterdrückung und Wiederholungszwang parallel zu anarchistischen Interventionen entstehen.
Das Träumen in „NÔT“ ist ein Träumen in Bewegung, eine sich fortwährend neu zusammensetzende Montage aus dissonanten Fragmenten, aufgerissenen Fratzen und verzerrten Körperbildern, die nur schwer mit Worten greifbar und erst recht nicht leicht zu verdauen ist. Messer und Teller werden zu Instrumenten, Instrumente zu Kopfkissen, Hände zu Füßen, Beine zu Schreibutensilien. Beständig bleibt vor allem die Transformation, wenn Körper gleichermaßen wachsen und schrumpfen, wenn sie maskiert, demontiert, kostümiert und massakriert werden. Der mitunter sehr unheimlichen Welt und den in ihr agierenden Figuren liegt eine radikale Offenheit und Widersprüchlichkeit zugrunde, die laut eigener Aussage exemplarisch für die künstlerische Arbeit von Freitas ist (siehe TdZ 10/2017).
Das ist einerseits befreiend, sorgt aber paradoxerweise auch für eine gewisse Abhängigkeit vom Publikum, dessen Imaginationskraft und Flexibilität ebenso gefragt ist wie die der Künstler:innen auf der Bühne. Die vielen Aufschichtungen und das Nebeneinander von sich teils kontrastierenden visuellen und akustischen Elementen – die musikalische Begleitung seiner Darbietung übernimmt das Ensemble über weite Strecken des Abends hinweg selbst, u. a. mit Trommeln, Blechgeschirr und Besteck, sowie dem eigenen, quasi anders instrumentalisierten Körper, der singt, schreit, keucht und schnarcht – führen sowohl zu Begeisterung als auch zu Verwirrung oder gar Frustration. Einige der Hamburger Zuschauer:innen brechen am Ende der Vorstellung in Jubelrufe aus, andere verlassen vorzeitig den Saal.
Nichtsdestotrotz: Freitas’ Arbeit ist, in Anlehnung an ihre Vorlage und deren polyphone Erzählstruktur, eine kultur- und identitätsübergreifende Komposition, die insofern utopisches Potenzial besitzt, als dass sich traditionelle und popkulturelle Einflüsse aus beiden Hemisphären zu fluiden Fiktionen und hybriden Arrangements verbinden, die nicht beliebig, aber eben unberechenbar sind. Der aus Martinique kommende Schriftsteller und postkoloniale Vordenker Éduard Glissant plädiert mit seiner Denkfigur der Créolisation (‚Kreolisierung‘) für einen wechselseitigen Austausch der Kulturen, in dem „die beiden miteinander in Kontakt gebrachten kulturellen Elemente unbedingt als ‚gleichranging‘ gelten müssen“[1]. In diesem Sinne ließe sich der Titel „NÔT“ – kapverdisches Kreolisch für Nacht – nicht nur als Verweis auf das Reich der Träume und utopischer Begehren interpretieren, sondern möglicherweise auch als Hinweis auf ein vorherrschendes ästhetisches und kulturtheoretisches Prinzip; jenseits von imperialer Aneignung und Orientalismus. „NÔT“ fordert heraus, dröhnt sich in den Körper ein und verbleibt dort schließlich als Gefühl, das sich vielleicht am besten mit folgender Liedzeile aus Nick Caves Klassiker „The Mercy Seat“ umschreiben lässt: I think my head is burning, and in a way I am always yearning.
[1] Édouard Glissant: „Kultur und Identität. Ansätze zu einer Poetik der Vielheit“. Heidelberg 2005, S. 13.
Erschienen am 13.8.2025