Theater der Zeit

Stück

Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr

von Serhij Zhadan

Erschienen in: Theater der Zeit: Thema Ukraine: Serhij Zhadan „Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“ (04/2022)

Assoziationen: Sprechtheater Dramatik Dossier: Ukraine

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Einleitung
Passkontrollbereich am Grenzübergang eines osteuropäischen Landes. Eine regnerische Nacht. Grelles Scheinwerferlicht erhellt die Luft. Eine Schlange von Menschen, die – von Osten kommend – die Grenze überqueren wollen. Auf der anderen, westlichen Seite stehen Menschen unter Schirmen und beobachten das Geschehen.

Chor mit Schirmen:
Sagen wir es doch jetzt gleich.
Solange wir nach Regen und Straße duften.
Solange uns keiner mit dem käuflichen Wort „Publikum“ tituliert.
Solange wir unsere Kleider nicht mit der Mittagssoße Kultur befleckt haben.
Sagen wir es doch so, als würden wir uns zum letzten Mal sehen,
als müssten wir nicht morgen den Blick abwenden und unsere eigene Offenheit bereuen.

Sagen wir doch, was wir von unserer Sicherheit halten.
Von unserem Wunsch, im eigenen Treppenhaus nicht über Leichen steigen zu müssen.
Von unseren Grenzen, die reißen wie Hemden im Straßenkampf.
Von unserem Recht, die Welt mit Worten zu erklären,
die wir in den Frühnachrichten gehört haben.

Kultur ist die Fähigkeit, in Gegenwart der Toten über das Leben zu sprechen.
Kultur ist der Versuch, sich mit denen zu verständigen,
die unter dir ein Feuer entfachen.
Kultur ist unsere Fähigkeit, zwischen trauriger ­Erfahrung
und unguter Vorahnung zu balancieren.

Sollen wir in den Theatern über Politik sprechen?
Sollen wir aus Kriminalmeldungen Gedichte machen?
Sollen wir so tun, als würden wir uns sicher fühlen in dieser Welt, die noch immer den Rauch ausgebrannter Synagogen verströmt?

Nun denn, versuchen wir, auf Augenhöhe zu reden mit dieser weisen, abwägenden Welt.
Versuchen wir, nicht wegzuschauen, wenn wir sehen, wie die Schlachter die rosigen Rindsleiber des Dämmerlichts zerteilen.
Versuchen wir, mit denen zu diskutieren,
die uns Flüche senden
an diesem wundervollen, sanften,
sonnigen Morgen.
Versuchen wir, mit dem Tod zu sprechen.

Eine beleuchtete Gefängniszelle. Zwei Personen, Flüchtlinge, die auf die Abschiebung in ihr Heimatland warten. Der erste ist jung, er trägt schwarze Kleidung und Armeestiefel. Der zweite ist älter, erfahren und trägt einen Businessanzug.

Mann in Militärkleidung:
In dieser Nacht hört man nicht nur, wie einer atmet, man hört, wie einer nach Luft ringt.
Es fehlt an Luft in den engen Räumen, gefüllt mit jenen,
die alles erklären wollen.
Meistens riecht die Freiheit nach den städtischen Müllhalden.
Das ist eine Reise von der einen Seite der Ungerechtigkeit auf die andere.
Das ist der Wechsel von einem Krankenzimmer ins nächste,
auf der Suche nach Nahrung und Medizin,
auf der Suche nach Hoffnung und Verständnis.
Das ist unsere Welt, eine Welt, die keinen Platz hat für Ungerechtigkeit und Schmerz.
Eine Welt, die die Straßenseite wechselt,
wenn sie uns gesehen hat.

Ich bin in dieses Land gekommen, wie Erwachsene zum ersten Mal in eine Schule kommen.
Ich habe in seinen ramponierten Klassenzimmern das Alphabet der Liebe gelernt.
Ich habe mit den Listen seiner Gläubiger lesen gelernt.
Ich weiß, wie das Land zu Hause redet und wie es auf dem Markt spricht.
Ich kenne seinen Atem, der nach Brot und Schnaps riecht.
Ich habe mit dem Vokabular aus seinen Wörterbüchern sprechen gelernt.

Chor mit Schirmen:
Keiner hat dich hergerufen.
In dieses Land, das mit sich selbst nicht zurechtkommt.
Keiner hat hier auf dich gewartet.
In dem Land, wo man sich nach jedem Schuss umschaut.

Das Land kämpft für sein Recht, in den eigenen Grenzen zu bleiben.
Und du, der du für das Land gekämpft hast, was hast du verteidigt?
Die Grenzen, die niemals deine werden?
Die Freiheit, über die du nichts weißt?

Wer sitzt jetzt in den Zellen dieses Landes?
Wer hütet die Wut wie Briefe von daheim?
Mit wem sprichst du, wenn du hier rauskommst?

Die Sprache der Wut, die Sprache dieses Landes, eine Sprache, die beim Überschreiten jeder Grenze ihre Bedeutung verliert.
Eine Sprache, die – getrennt vom Betreiber – verschwindet.
Eine Sprache für Unterredungen im Traum.
Eine Sprache für Begegnungen in der Massenzelle.
Männer, die sich in der Meute der Häftlinge
hinter ihrer Sprache verschanzen.
Sprache als Mal, Sprache als Tätowierung, gestochen auf Narben,
als hätte jemand ein Hemd geflickt, das im Straßenkampf gerissen ist.

Mann in Militärkleidung:
In dieser Sprache sprechen, wenn keiner hinhört.
Sie sprechen, wenn keiner etwas versteht.
Sprechen, um die Geister der Panik zu beschwören.
Sprechen, um Dunkelheit und Schwüle abzuwehren.
Ich spreche und atme,
atme und spreche,
spreche und atme,
spreche und atme.

Chor mit Schirmen:
Nun denn, versuch, dich mit diesem Leben zu verständigen.
Versuch, mutig zu sein, wenn du mit der Dunkelheit redest.
Versuch zu reden, solange dir jemand zuhört.
Atme die Luft aus, atme die Luft aus.

1. SZENE
Die Gefängniszelle. Die beiden Protagonisten stehen an einer Wand, unter einem Fenster, sie lauschen auf die Stimmen von der Straße. Der erste, in Militärkleidung, ist angespannt, was er zu hören glaubt, gefällt ihm nicht. Der zweite, der Anzug trägt, ist locker und entspannt.

Mann im Anzug: Wie bist du denn hierher geraten?
Mann in Militärkleidung: Wer? Ich?
Mann im Anzug: Ja, du. Wie bist du denn hierher geraten? Wie seid ihr eigentlich alle hierher geraten? Was wollt ihr hier?
Was zieht euch in dieses Land, das zwischen den Grenzen eingezwängt liegt?
Wie ortet ihr es im trüben Dunkel der Geografie?
Wie findet ihr seinen Herzschlag im Dämmer der Welt?
Mann in Militärkleidung: Ich bin aus dem Osten gekommen.
Mann im Anzug: Ich bin auch aus dem Osten gekommen.
Mann in Militärkleidung: Ich bin gekommen, um für dieses Land zu kämpfen. Hier ist Krieg, schon gehört?
Mann im Anzug: Klar. Als Söldner?
Mann in Militärkleidung: Als Freiwilliger.
Mann im Anzug: Komische Leute, die kämpfen. Komische Leute, die sich nicht einigen können.
Die Welt, die uns zugefallen ist,
gibt uns allen so viele Möglichkeiten.
In erster Linie solchen wie mir: Hochstaplern und Spekulanten.

Eine Welt, die dir tausend Überlebensmöglichkeiten bietet.
Eine Welt, in der du außer einem guten Herzen Kiefer aus Stahl brauchst.
Eine Welt der Bewährungsstrafe, eine Welt voll unglaublicher Möglichkeiten.
Eine Welt, in der die Grenzen vor allem unsere Angst markieren.

Tritt ins Licht, auf den Chor zu:
Wer würde den Lichtstrahl dieser Welt leugnen?
Chor: Nur die Blinden, nur jene, die nicht fähig sind, ihre Augen zu öffnen!
Mann im Anzug: Wer ist nicht fähig, die Größe eines Gedankens zu erkennen?
Chor: Nur jene, die weder Fantasie noch Ehrgeiz besitzen!
Mann im Anzug: Wer hat Angst vor Recht und Gesetz?
Chor: Nur jene, die nicht an Fügung glauben!
Mann im Anzug: Wer glaubt denn an die Gerechtigkeit?
Chor: Nur jene, die nicht an sich selbst glauben!
Mann im Anzug: Ich bin in dieses Land gekommen, um jegliche Vorschriften zu übertreten.
Ich habe das Land ausgehöhlt wie ein Virus.
Ich habe es zerfressen wie Eisen ein Schiffswrack.
Und eigentlich hatte ich überhaupt nicht vor, von hier wegzugehen.
Dass sie mich geschnappt haben, dass ich hier sitze. Dass ich mich dieses Mal nicht freikaufen kann. Dass sie mir jetzt meine ganzen Vergehen vorhalten, ist vielleicht das Komischste, was sich die Himmel für mich ausdenken konnten.

Mann in Militärkleidung: Was wird denn nun aus uns? Hast du eine Ahnung?
Mann im Anzug: Wir werden abgeschoben, mein Lieber.
Mann in Militärkleidung: Abgeschoben?
Mann im Anzug: Ja, zurückgeschickt, nach Hause. Wir werden abgeschoben und kommen vor Gericht. Ich wegen Schieberei, du wegen Kriegsverbrechen. Für mich ist es einfacher – Schieber mag keiner, aber
dass es sie gibt, nimmt man hin.
Für dich ist es schlimmer: Du hast hier gekämpft und damit auch gegen dein Land.
Das verstehst du doch?
Mann in Militärkleidung: Aber ich wollte das Land doch verteidigen.
Wieso liefern sie mich an ihre Feinde aus?
Mann im Anzug: Manchmal ist Politik stärker als Liebe.
Offenbar haben dich jene verraten, für die du dein Leben lassen wolltest.
Das Land braucht deine Verteidigung nicht. Wir sind hier Verbrecher, mein Lieber.
Der Unterschied besteht nur darin, dass du für das Land deinen Kopf hingehalten hast, und ich habe es geschröpft.
Das ist der ganze Unterschied.
Mann in Militärkleidung: Das ist nicht fair.
Mann im Anzug: Glaubst du vielleicht, sie können dich nicht abschieben?
Dich nicht von hier entfernen?
Mann in Militärkleidung: Mich entfernen.
Mich aus dem Land entfernen wie eine kranke Lunge. Eine Lunge, die nicht mehr atmen kann, eine Lunge, mit der man nur noch erstickt.
Eine Lunge voll vergifteter Liebesluft,
einer Luft, die Eidesworte gebiert.

Mich aus dem Land entfernen wie einen materiellen Beweis.
Einen Beweis dafür, dass die Welt nachlässig und ungerecht eingerichtet ist.
All unsere Versuche, die einbrechende Mauer zu stützen, sind zum Scheitern verurteilt.
Zum Scheitern verurteilt ist unsere Treue, zum Scheitern verurteilt ist unsere Unbezwingbarkeit.

Mich aus diesem Land entfernen wie einen Fehler aus einem Text.
Schreibt dann diese Geschichte um ohne mich, ohne meinen Namen.
Korrigiert die Geschichte wie den Nachruf eines verstorbenen Verwandten,
den keiner geliebt hat, auf den aber alle finanziell angewiesen waren.

Das schwarze Blut der Vergangenheit bleibt in meinem Körper.
Die feinen Risse im Gedächtnis brauchen einen Verband.
Über dem goldenen Europa bricht der Morgen des letzten Tages an.
Die Geister kommen zusammen, erinnern an Hingabe und Unvermeidlichkeit.

2. SZENE
Grenze. Menschen mit Koffern stehen in einer Schlange. Scheinwerferlicht blendet ihre Gesichter.

Chor mit Koffern:
Hörst du die Stimmen all jener, die es nicht über die Grenze geschafft haben?
Die Stimmen der Zurückgesetzten und Entmutigten?
Die wütenden Stimmen jener, die der Falle nicht entronnen sind,
denen nur wenige Meter bis zur Rettung fehlten?

Wie kannst du jetzt schlafen mit diesen Stimmen im Schädel?
Wie kannst du jetzt den anbrechenden Morgen beobachten, wissend,
dass jenseits des Horizonts jene zurückgeblieben sind, die dem Lauf der Sonne
nicht folgen konnten?

Die Politik füllt die Landschaft mit den Stimmen der Gescheiterten.
Die Politik gibt der Wettervorhersage einen metallischen Beigeschmack.
Die Politik lehrt dich, in der Zivilisation eine leichte Beute zu sehen.
Eine Beute, die zutraulich auf deinen Hof kommt.

Erste Stimme im Chor:
Osteuropa gleicht einem Fegefeuer.
Ein hoher Pass, an dem ganze Herden erfrieren.
Ein Bahnhof, von dem niemand abreist.
Ein Markt, auf dem man Freude kaufen kann.

Zweite Stimme im Chor:
Anfang des 21. Jahrhunderts. Eine trockene, gut beleuchtete Gefängniszelle.
Zwei Männer warten auf ihr Urteil.
Sie halten den Atem an, wägen ihre Chancen ab.
Überlegen, wie die Dämonen der Geschichte zu überlisten wären.

Dritte Stimme im Chor:
Unsere Erinnerung hängt an der Politik und der Religion.
In unseren Familienalben finden sich zu viele Porträts von
Mördern und Ermordeten.
Sei gut zu uns, Geschichte, sei uns gnädig.
Entlass uns aus deinen eisigen Fängen.

Chor:
Countdown der Zeit.
Sonnenheller Himmel.
Die Zeit rinnt uns durch die Finger.
Die Zukunft wird geformt aus unseren heutigen Tragödien.

Vor einem erleuchteten Schaufenster sitzt eine Frau und hält ein fest in eine Decke gewickeltes Baby im Arm. Sie trägt ein Kopftuch, eine dicke abgewetzte Winterjacke. In einer Hand hält sie einen Pappbecher aus einem Schnellrestaurant, in den die Leute Münzen werfen.
Polizisten treten auf sie zu.

Erster Polizist: Hallo, Sie dürfen hier nicht betteln.
Zweiter Polizist: Hallo, Sie stören hier die öffentliche Ordnung.
Erster Polizist: Haben Sie einen Personalausweis?
Zweiter Polizist: Welche Sprache sprechen Sie? Verstehen Sie uns überhaupt?
Frau: Ja, ich verstehe Sie. Ich verstehe alles.
Ich habe keinen Ausweis.
Und ich habe auch keinen Namen.
Ich habe Brandwunden, die ich bekam, als die Welt, in der ich gelebt habe, in Flammen stand.
Ich habe Narben, die vom Überqueren der Grenzen geblieben sind.
Erster Polizist: Sie können hier nicht bleiben.
Zweiter Polizist: Sie können hier nicht bleiben.
Erster Polizist: Es ist verboten, hier zu bleiben.
Zweiter Polizist: Hören Sie uns?
Frau: Ich höre Sie. Ich höre Sie reden.
Ich höre euch lachen, wenn ihr Mittagspause macht.
Höre euch summen, wenn ihr nach Hause geht. Höre euch lachen, wenn ihr mit euren Frauen sprecht.

Ich höre euch im Schlaf atmen.
Höre euch erschrocken aufschreien, wenn ihr erwacht und in die Dunkelheit schaut.
Ich weiß, dass ihr die ganze Zeit von uns träumt:
von denen, die ihr tagsüber in den Straßen eurer Stadt seht.

Ich höre alles, was die Mütter zu ihren Kindern sagen, wenn sie sie zur Schule bringen.
Ich höre, was die Priester sagen, wenn sie der spärlichen Gemeinde Absolution erteilen.
Ich höre eure Angst, ich höre eure Unsicherheit.
Das Einzige, was ich nicht höre, ist die Stimme der Liebe.

Ich vernehme keine Worte, mit denen ihr dem Tod widersteht.
Ich vernehme keine Worte, mit denen ihr über die Zukunft sprecht.
Ich vernehme keine Worte der Freude, keine Worte der Vehemenz,
keine Worte, die Dämonen vertreiben und Wunden heilen.

Eine Stimme, die in der Luft hängt.
Eine kindliche Stimme, die um nichts bittet,
eine Stimme, die nichts fürchtet und nichts verbirgt,
eine Stimme, die nur staunt über die eigene Fähigkeit zu klingen.

Die Polizisten richten die Frau auf. Sie wickelt die Decke aus, die sie im Arm gehalten hat, und faltet sie ordentlich zusammen. In der Decke war natürlich kein Kind.

3. SZENE
Die Gefängniszelle. Unsere Protagonisten bekommen Frühstück, sie unterhalten sich.

Mann im Anzug: Wer wartet denn zu Hause auf dich?
Wen hast du zurückgelassen?
Mann in Militärkleidung: Keiner. Alle haben sich von mir abgewandt,
als sie hörten, dass ich kämpfe.
Mann im Anzug: Richtig so. Mörder mag keiner.
Mann in Militärkleidung: Die Mörder sind da, wo wir herkommen.
Mann im Anzug: Dann hast du gegen die eigenen Leute gekämpft?
Und jetzt schieben sie dich nach Hause ab?
Weißt du, dass sie sich dort nicht auf dich freuen?
Mann in Militärkleidung: Ich ahne es.
Mann im Anzug: Schwer ist das Brot der Vertreibung, nicht wahr, mein Freund?
Mann in Militärkleidung: Schwer. Aber ehrlich.
Mann im Anzug: Klar, dass du nun ausgerechnet über Ehrlichkeit sprichst.
Was geben dir denn deine Freunde?
Wo ist ihre Dankbarkeit,
wo die Gerechtigkeit, mein Freund?

Vielleicht meint es unsere Zeit mit Idealisten besonders gut.
Du kommst einfach nach Hause
statt an den Galgen.
Du wirst einfach an deinen Platz verwiesen.
Ein System von Grenzen und internationalen Vereinbarungen.
Ein auszulegender Kodex von Regeln und Kompromissen –
die Welt schützt sich vor überzogenen Illusionen, die Welt stützt sich auf einen rettenden Zynismus.

Das Brot der Vertreibung reicht einfach nicht für alle.

Mann in Militärkleidung: Nur zu – sprich vom Brot der Vertreibung,
von der unausweichlichen Rückkehr und Bezahlung.
Sprich von der Nichtzeit im Gefängnis.

Wie viele von uns prüft das Leben auf Stärke?
Wie vielen von uns werden Rechnungen gestellt, die wir nicht begleichen können?
Allzu grausame Gesetze, bestimmt, uns glücklich zu machen.
Allzu kraftlose Gesetzeshüter,
denen unsere Hoffnung obliegt.

Verraten und verdammt zur Herabsetzung,
beraubt der Fähigkeit, sich zu rechtfertigen –
was erzähle ich dir vom Brot der Vertreibung,
von der unaufhaltsamen Rückkehr ins Dunkel?

Die Welt wird geschlossen wie ein nächtlicher Bahnhof.
Gute Fahrt all jenen, die es geschafft haben, von hier fortzukommen.

4. SZENE
Grenzübergang. Menschen passieren die Grenze.

Flüchtlingschor: Der Wachmann öffnet für uns das Tor.
Schaut nur – der Wachmann öffnet für uns das Tor! Ein redlicher Mann mit schweren Schlüsseln.
So geduldig scheidet er uns von der Vergangenheit.
Scheidet uns wie das Licht von der Finsternis.

Und so öffnen sich die Grenzen wie Bücher.
Was liegt wohl vor dir?
Das schwarze Schulwissen der Vertriebenen.
Eine Sprache, die in den Händen bricht wie Brot.

Erste Stimme: Du wirst nicht satt werden, du, du wirst dich nicht retten.
Hunger und Einsamkeit erwarten dich in den Schulfluren der Zukunft.
Hunger, Schweigen und Einsamkeit!

Zweite Stimme: Hinter uns bleibt Ödnis zurück. Was ist wohl in deiner Vergangenheit gewesen?
Tote Städte wie geschlossene Bibliotheken.
Eine Sprache, aus der Liebe gewonnen wird wie Öl aus der Erde.

Erste Stimme: Da stehen wir nun zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Da bläst uns der Wind der Kindheit in den Rücken.
Und der redliche Wachmann öffnet uns das Tor.
Der ach so redliche Wachmann weist jedem seine Zukunft zu.

Zweite Stimme: Eine merkwürdige neue Sprache, eine wundersame neue Kirche.
Die Marktplätze von Wien und München, Universitäten und Häfen.
Mit welchen Wörtern benennen wir nun die Schatten in der Zukunft?
Auf welche Wörter verzichten wir nun, wenn wir die Vergangenheit beweinen?

Chor:
Der gelbe Himmel der Vertreibung, unter dem die Bäume aufwachsen,
die wir gepflanzt haben.
Der bestirnte Himmel der Nostalgie, aus dem ein Metallmond stürzt.
Die Straße der Möglichkeiten ist eine Einbahnstraße.
Es werden Säuglinge über sie getragen.
Es werden Tote über sie getragen.
Es laufen Männer über sie auf der Suche nach Dunkel.
Es rennen Frauen über sie und verfolgen die Dämonen der Zärtlichkeit.

Redlicher Wachmann, sprich als Erster.
Sprich mit mir, du redlicher Mensch.
Sprich über die Unmöglichkeit zurückzukehren,
sprich über die Unvermeidlichkeit der Trauer.
Sprich mit mir über die Trauer, über ihre Spannung und Sanftheit.

Das Licht kommt nach uns, das Licht kommt nach einem langen Weg.
Die Bahnhöfe füllen sich mit unseren Stimmen.
Von unserer Schwermut erkalten die Brücken.
Die kindlichen Lippen schneiden sich an der fremden Sprache.
Schneiden sich und schwären.
Schneiden sich und schwären.

5. SZENE
Eine europäische Stadt. Der Bahnhofsvorplatz. Eine Schar Männer in Businessanzügen.

Chor in Anzügen: Wer sind die Leute, die vor den Stadtmauern stehen?
Was haben sie in ihren Säcken?
Wie redest du mit denen, die in dein Haus kommen?
Wie verstehst du jene, die nichts zu dir sagen?

Erste Stimme: Der Fremde in deiner Stadt ist immer ein potenzielles Problem.
Der Fremde am Nachbartisch ist immer eine potenzielle Bedrohung.
Das Problem ist nicht, dass sie fremd sind.
Das Problem ist, dass sie anders sind.

Zweite Stimme: Was haben Menschen im Auge, die ihre Häuser verlassen?
Warum kommen sie vor unsere Fenster?
Unsere Liebe genügt vielleicht nicht für alle Sehnsüchtigen.
Unsere Geduld reicht vielleicht nicht für alle Klagen dieser Welt.

Eine Frau tritt aus der Schar.

Frau: Die Bewohner der alten Handelszentren. Die Bürger der Häfen, von denen aus der Fortschritt um die Welt ging
wie ein Virus.
Männer und Frauen, die über Jahrhunderte im Hafen die gute Nachricht von Sieg und Gewinn empfangen haben.

Wessen Schiffe kehren jetzt in unsere Städte zurück?
Welche Fracht führen die Privatflotten in ihren ­Laderäumen?
Wo ist der Geist des guten alten Protestantismus geblieben,
in dem jeder selbst verantwortlich ist für die Rettung seiner Seele und seiner Ware?

Eure Truhen sind gefüllt,
eure Konten sind gefüllt,
eure Lager und Läden füllen sich mit Tuch und Gold.
Ihr habt etwas zu verlieren, ihr Anlieger der goldenen Ankerplätze,
ihr Bewohner der Städte, die ihr das Rückgrat der neuen Geschichte seid.

Allein die Namen eurer Häfen haben
Schrift und Wissenschaft vorangebracht.
In euren Vierteln sind häretische Lehren entstanden, und der christliche Glaube hat sich verankert. Eure Kirchen haben die ganze Ungerechtigkeit der Welt erklärt.
Eure Universitäten haben die Welt Demut und Gehorsam gelehrt.

Und plötzlich hat sich die Welt verändert, ist in ­ihrer einfachen Mechanik etwas zerbrochen.
Sie ist verstummt wie ein Musikinstrument bei Frost.
Ausgekühlt wie der Ofen in einem Haus, in dem keiner mehr wohnt.
Wo ist denn euer Vertrauen in den Fortschritt?
Wo euer Glaube an die stabilen Festungsmauern?
Schlechte Nachrichten treffen ein wie ein Fluss im März.
Schlechte Nachrichten für alle, die ausharren und durchhalten wollten.
Schlechte Nachrichten über die gebrochenen Dämme der Geschichte, über eine Zeit, die im Wahn ist
und ihre Hirten zertrampelt.

Wer kann sich diese Nachrichten anhören?
Wer kann aus dem Fenster schauen,
wo die Lager am Hafen
schon brennen?

Chor in Anzügen: Wer sind die Leute, die die Gangway herabkommen?
Was verbergen sie in ihren Seelen?
Wie besprichst du dich mit denen, die dich nicht verstehen?
Wie verstehst du jene, die nichts von dir wollen?

Erste Stimme: Der Fremde vor deinem Fenster nimmt dir die Morgensonne.
Der Fremde auf der Straße ist eine allzu willkommene Zielscheibe.
Das Problem ist nicht, dass sie gekommen sind.
Das Problem ist, dass zu Hause keiner auf sie ­wartet.

Zweite Stimme: Was träumen jene, die in einem fremden Bett erwachen?
Was wollen sie denen sagen, die sie übers Meer getrieben haben?
Unsere Liebe reicht vielleicht nicht einmal für uns selbst.
Unsere Sprache reicht nicht, um auf alle Zurück­gesetzten einzugehen.

Frau: Schlaft süß alle, die ihr ein Dach über dem Kopf habt.
Mögen euch die Gedanken an einen hungrigen Morgen verschonen.
Mögen euch die Gedanken an leere Häuser, verlassen im Morgendunst,
nicht den Atem nehmen.

Das große Wasser strömt zu den Stadttoren.
Das große Wasser reißt die Brücken fort, auf denen die Händler sonntags zu den Marktplätzen laufen. Wasser, rohölfarben.
Wasser der Gram.
Wasser der Gerechtigkeit.

6. SZENE
Abteilung für die Angelegenheiten der illegalen Einwanderer.
Der Sachbearbeiter ruft die Besucher einzeln auf und füllt Formulare aus.

Sachbearbeiter: Der Nächste!
Erster Mann: Ich.
Sachbearbeiter: Name!
Erster Mann: Fehlt.
Sachbearbeiter: Geburtsort!
Erster Mann: Fehlt.
Sachbearbeiter: Beruf!
Erster Mann: Vogelfänger.
Sachbearbeiter: Der Nächste!
Zweiter Mann: Ich.
Sachbearbeiter: Name!
Zweiter Mann: Fehlt.
Sachbearbeiter: Geburtsort!
Zweiter Mann: Fehlt.
Sachbearbeiter: Beruf!
Zweiter Mann: Brunnenbauer.
Sachbearbeiter: Der Nächste!
Dritter Mann: Ich.
Sachbearbeiter: Name!
Zweiter Mann: Fehlt.
Sachbearbeiter: Geburtsort!
Dritter Mann: Fehlt.
Sachbearbeiter: Beruf!
Dritter Mann: Traumdeuter.

Der Sachbearbeiter nimmt die Formulare und liest sie noch einmal durch.

Sachbearbeiter: Du lebst in deiner Stadt, in dem Haus, in dem du geboren bist.
Lernst in der Schule, die dein Vater besucht hat.
Hältst auf den Klub, auf den dein großer Bruder gehalten hat.
Kennst alle, die in deinem Viertel wohnen, und entdeckst Fremde.

Weißt, dass die Politik sich selbst genügt.
Weißt, dass die Fremden der Grund allen Übels sind.
Weißt, dass das Recht auf seiner Seite hat, wer die Stadt nicht verlässt.
Weißt, dass die Geschichte längst stillsteht wie eine Grube,
deren Kohle gefördert ist.

Die Zeit geht nach wie eine alte mechanische Uhr. Die Zeit lässt uns keine Chance auf ein unbekümmertes Leben.
Mit unseren Ängsten, unseren Mutmaßungen bleiben wir allein.
Bewahre, Herr, all jene, die Tickets für diese vergebliche Tour haben.

Unbekannte Stimmen, die vor dem Fenster tönen.
Unvertraute Gesichter, denen du auf der Straße begegnest.
In der Luft konturiert sich eine neue Sprache.
Alle wollen reden. Keiner will zuhören

7. SZENE
Eine Gefängniszelle. Ein Doppelstockbett. Auf der oberen Pritsche sitzt der junge Mann in Militärkleidung und Armeestiefeln und lässt die Beine herabbaumeln. Auf der unteren Pritsche liegt der Zweite, im Businessanzug. Vor ihnen auf dem Boden steht ein kleiner ­tragbarer Fernseher. Es laufen Kurznachrichten. Zum Beispiel CNN.

Mann im Anzug: Und wie haben sie dich genannt?
Mann in Militärkleidung: Wer?
Mann im Anzug: Die Menschen in dem Land, mit denen du gegen die eigenen Leute gekämpft hast.
Mann in Militärkleidung: Sie haben mir einen Namen gegeben, den viele Männer in diesem Land tragen.
Mann im Anzug: Und wie gings dir so mit dem fremden Namen? Hattest du keine Angst, in den Kampf zu ziehen und zu wissen, dass sich später auf dem Friedhof keiner mehr erinnern wird, wie du geheißen hast?
Mann in Militärkleidung: Ich fand meinen neuen Namen gut.
Ich fand es gut, dass sie mich für einen der ihren gehalten haben.
Ich habe die Wahrheit darin entdeckt, wie diese Leute über den Tod sprechen.
Wie froh sie über traurige Zeiten sprechen.
Ich hatte mich an meinen neuen Namen gewöhnt. An meine Waffe, an die neue Landschaft.
Mann im Anzug: Ein Mensch kann seinen Atem nicht ändern.
Unser Auge hängt an dem, was es von Anfang an gesehen hat.
Für sie hättest du nie richtig dazugehört.
Sie hätten in dir immer den Fremden gesehen.
Mann in Militärkleidung: Ich wollte ihnen ja gar nicht gefallen.
Ich wollte nur mit ihnen zusammen sein.
Mann im Anzug: Wir alle wollen gefallen.
Uns allen ist es wichtig, unter unseresgleichen zu sein.

Aber all das hat gar keine Bedeutung.
Dieses Land wendet sich einfach von dir ab.
Die Landschaft, auf die dein Blick gerichtet war,
bleibt höchstens in deiner Erinnerung,
in deiner traurigen Erinnerung.

Mach dich auf das Schlimmste gefasst, Soldat.
Auf Verrat, auf Ablehnung, auf Schande.
Auf traurige Tage voller Misstrauen und Hilflosigkeit.
Auf das Ausbleiben guter Nachrichten,
auf traurige Neuigkeiten.

Mann in Militärkleidung: Kanonenfutter der Geschichte, Verbände, die die Dunkelheit stürmen. Männer, die mit ihrer Armut Kontinente verbinden. Es ist nichts mehr zu machen, die Wasser sind nicht aufzuhalten,
die in die Armutsviertel strömen, Lager und Kirchen überfluten.

Für die Möglichkeit zu danken, diese Luft zu atmen, war alles, was ich konnte.
Bei denen zu bleiben, an die ich geglaubt habe, war alles, was ich wollte.
Merk dir meinen Namen, du Land von Widerstand und Kampf.
Ruf mich wie einen Hund, der sich im Dunkeln verloren hat.

Ruf mich und vergiss mich nicht.
Flicht mich in deine Sprache wie einen blutigen Faden.
Das Wasser rückt näher und kappt den Fluchtweg.
Die Sterne stürzen ins Wasser wie Selbstmörder.

8. SZENE
Die Polizisten führen die Frau aus einem Supermarkt. Sie wehrt sich.

Frau: Tilgt mich, tilgt mich aus diesem Land!
Schließt eure Haustüren hinter mir.
So, dass ich nie wieder hierher zurückkommen kann.
So, dass mir keine Chance bleibt, wieder durchzuschlüpfen.

Tilgt mit mir auch die Erinnerung an mich.
Tilgt aus der Erinnerung den Klang meiner Stimme.
Tilgt die Augenfarbe, tilgt die Fingerabdrücke.
Ich will verschwinden aus dieser Stadt, aus eurem Gedächtnis.

Wir alle sind hier überflüssig – Zugelaufene, die den Hafenfeuern gefolgt sind,
gefolgt der Wärme in den Tankstellen an der Straße, den Lichtern in den Kantinen.
Gefolgt den Gerüchen auf den Basaren, den Farben in den Supermärkten.
Gelaufen in der Hoffnung, der Vergangenheit zu entkommen, die uns auf den Fersen war.
Erster Polizist: Sie müssen mitkommen.
Zweiter Polizist: Sie können die Aussage verweigern.
Erster Polizist: Sie bekommen einen kostenlosen Anwalt.
Zweiter Polizist: Sie bekommen einen Dolmetscher, damit Sie alles verstehen.
Erster Polizist: Wir setzen uns mit Ihrer Botschaft in Verbindung.
Zweiter Polizist: Wir organisieren Ihren Rücktransport ins Heimatland.
Frau: Ich weiß, dass ich diesen Platz zum letzten Mal sehe.
Ich weiß, dass ich zum letzten Mal über dieses Pflaster gehe.
Das sind die gebrochenen Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr.
Das sind unsere Lieder, die wir in die kalte Luft hinausschreien.

Singt mit mir, ihr Frauen, die ihr hier kein Haus gefunden habt.
Singt mit, ihr Männer, die ihr hier keine Arbeit gefunden habt.
Singt mit, ihr Kinder der Last der Straße.
Ihr Halbwüchsigen, die ihr das Freudenelixier in der hohlen Hand bergt.

Der Weg des Zweifels, der Weg der Niederlage liegt vor uns.
Wie einen Stein schleppen wir die Vergangenheit mit uns herum.
Hört ihr mich, Brüder in Vertreibung und Vergessen?
Hört ihr mich in euren Gefängniszellen und Frachträumen?

Im Hintergrund tauchen die Silhouetten unserer Häftlinge auf – der Mann in Militärkleidung und der Mann im Anzug. Sie antworten der Frau.

Mann in Militärkleidung: Ja, Schwester, wir hören deine Stimme.
Wir singen mit dir, Schwester.
Mann im Anzug: Wir setzen uns neben dich, Schwesterlein.
Wir alle sind Diebe, Betrüger, Spekulanten,
hohle Stängel, unbekannte Pflanzen,
leider sind wir hier nicht heimisch geworden, dann suchen wir uns eben einen anderen Platz.
Mann in Militärkleidung: Aber sing, sing, nimm uns auf mit deiner Stimme.
Markiere uns an den fremden Orten.
Lang sind die Wege der Vertreibung, süß die Träume der Obdachlosen.
Still ist der Lauf der Geschichte. Grausam ihr Lächeln.

9. SZENE
Ein Platz in einer europäischen Stadt. Heiligabend. Drei Flüchtlinge stehen dort. Sie halten Papiertüten aus dem Supermarkt in der Hand.

Der Erste: So leer ist es jetzt auf den Straßen und so dunkel.
Als hätten die Bewohner ihre Viertel verlassen,
um vor der Pest zu fliehen.
Der Zweite: Genau, Unrast und Stille liegen in der Luft,
Unrast füllt die warmen Lungen wie Tauwetter,
kühlt sie ab wie Teeblätter im heißen Wasser.
Der Erste: Nacht, getränkt von Schlaflosigkeit, Nacht, wenn die Parkplätze weitläufig wirken, Nacht unserer Einsamkeit, Nacht der Stimmlosigkeit.
Der Zweite: Wo sind sie – die Leute aus den Vorstadtsiedlungen,
die Bewohner der stillen Stadtteile, der traurigen Viertel?
Wo sind sie alle? Wovor fliehen sie?
Der Dritte: Bei ihnen ist heute Feiertag. Sie feiern.
Der Zweite: Wo sind sie denn? Wo feiern sie?
Der Dritte: Sie sitzen zu Hause. In diesem merkwürdigen Land,
lassen sie die Straßen leer.
In dieser Nacht gehört die Stadt den Fremden.
Denen, die keinen Glauben haben, und denen, die kein Haus haben.
Der Erste: Was sollen wir, die wir geblieben sind, in dem fremden Land, auf den Plätzen und Bahnhöfen, machen?
Was sollen wir mit unserer Sprache anstellen?
Mit unserer Vergangenheit, mit unseren Schatten?
Was kann uns denn hier verbinden?
Der Zweite: Verbindet uns vielleicht der Geist eines Festes im Freien?
Der Dritte: Es gibt nichts, was uns allen gemeinsam ist.
Es gibt nichts, was jeder von uns annehmen würde. Aber bringen doch auch wir Ruhe in unsere Gespräche.
Erfreuen wir uns an diesem Abend, den keine Feuerflammen sprengen. Erfreuen wir uns an der Welt, die so eingerichtet ist, dass sie immer Platz bietet für Singen und Sinnieren.
Singen wir von unseren Leiden und Freuden.
Denken wir an unsere Verluste und Gewinne.
Bleiben wir in dieser Nacht.
Bleiben wir die, als die wir geboren wurden – die glücklichsten, unglücklichsten,
sorgenvollsten, sorgenfreisten.

Wie viele von uns werden die Armut noch kosten müssen.
Wie viele von uns werden noch vom Wind der Verdammung getrieben.
Und dennoch – singen wir und erfreuen wir uns an dem Moment.
Erfreuen wir uns an diesem unglaublichen Leben.

Die Männer betreten den Aufgang ihres alten Hauses. Nach und nach gehen in dem Haus die abendlichen Lichter an.

10. SZENE
Auf dem Flughafen. Die Polizisten begleiten die Männer, die abgeschoben werden sollen. Sie halten offizielle Schreiben und Dokumente in der Hand. Die Männer haben große Reisetaschen mit ihren persönlichen Habseligkeiten bei sich. Darunter unsere Protagonisten: der eine in Militärkleidung, der andere im Anzug.

Polizist: Zum Ausgang, bitte zum Ausgang.
Nehmt eure Sachen, eure Schätze von unterwegs,
das einfache Erbe der Flüchtlinge,
die schmale Habe der Wandernden.

Nehmt eure Hemden mit,
eure Bücher, verfasst von uns unbekannten Dichtern,
gedruckt in uns unbekannten Sprachen,
Bücher, die in eurem Heimatland verboten sind.

Männer, das ist nicht eure Geschichte, nicht euer Land.
Kehrt dahin zurück, wo ihr eure Namen zurück­bekommt.
Kehrt dahin zurück, wo ihr aufgewachsen seid, wo ihr euch selbst gefunden habt.
Alles geht zu Ende, alles ist so, wie es sein soll.

Der Mann im Anzug geht auf den Mann in Militärkleidung zu.

Mann im Anzug: Na, Freund, geht’s zurück?
Heute werden wir schon zu Hause übernachten.
Im Gefängnis schläft man besser im eigenen Land.
Zu Hause sind zwar die Gesetze strenger, aber die Wärter vertrauter.

Mann in Militärkleidung: Willst du wirklich zurückgehen?
Hast du denn keine Angst?

Mann im Anzug: Wovor soll ich denn Angst haben?
Ich bin und bleibe ein Verbrecher.
Egal, wo ich bin, schweben die
guten Engel der Unterwelt über mir.
Ich habe einfach die Vorschriften und Gesetze der Länder übertreten,
in denen ich war.
Aber ich habe niemanden umgebracht, niemandem das Leben genommen.
Was war in meiner Vergangenheit? Flotte Finanzgeschäfte.
Was habe ich vor mir? Eine Zeit der Sühne und Stille.
Es ist besser, nach Hause zurückzukehren.
Die Anstaltsmauern sind überall hoch.
Aber das Anstaltsbrot schmeckt zu Hause süßer.

Was hast du denn? Was nagt an deinem Inneren?

Mann in Militärkleidung: Ich kann nirgendshin zurück.
Hier lasse ich alles, was mir im Leben Halt gegeben hat.
Hier habe ich Antworten auf meine Fragen gefunden.
Hier habe ich für das gleißende Licht gekämpft.

Mann im Anzug: Ja, du bist nicht zu beneiden.
Zu Hause erwartet dich nichts als Strafe.
Dunkel und Plage des Anstaltsflurs.
Das ehrlose Schicksal eines Soldaten, der die falsche Armee gewählt hat.

Kehren wir zurück, mein Lieber, kehren wir zurück.
Die Geschichte geht zu Ende, alles ist klar:
Das System zertrümmert alle, Verbrecher wie Helden.
Die Politik ist eine Frau ohne Herz, genug gegen sie gegrollt.

Mann in Militärkleidung: Du hast nichts begriffen, nichts hast du begriffen.
Ich habe nichts zu bedauern.
In der Luft liegt zu viel Angst,
um ruhig und sicher zu atmen.
Wer weiß, von wem unsere Geschichte geschrieben wird,
in welchen Lettern unsere Namen
auf den Grabtafeln stehen.
Wir wissen nicht, wer einst die Kapitulation unterzeichnet.
Wer kann schon sicher sagen, dass der Kampf zu Ende ist?

Die Männer nehmen ihre Taschen und Koffer, werfen sich die Säcke auf den Rücken und gehen auf den vorderen Teil der Bühne.

Chor mit Säcken: Wir kehren heim,
wir kehren heim, Männer!
Dieser Versuch, die Mauern einzureißen, ist gescheitert.
Niemand kann uns den Wunsch nach Leben nehmen.
Niemand kann uns das Recht nehmen, Ungerechtigkeit
beim Namen zu nennen.

Mann in Militärkleidung: Was hat uns über die Grenzen getrieben?

Chor mit Säcken: Unsere Liebe!

Mann in Militärkleidung: Was gibt uns die Kraft heimzukehren?

Chor mit Säcken: Unsere Liebe!

Mann in Militärkleidung: Seid ihr bereit, dahin aufzubrechen, wo euch niemand erwartet?
Seid ihr bereit, dem Leben ins kranke Auge zu schauen?

Chor mit Säcken:
Kehren wir heim, lassen wir die Verzweiflung zurück.
Menschen, geboren in den letzten großen Zeiten.
Bürger der Vorstädte, Bürger der fernen Viertel.
Arbeiter, die das große Gebäude Geschichte errichten.

Sei unser Zeuge, du dornige Sprache.
Sei unsere Fortführung, sei unser Banner.
Alles wird so besprochen werden, wie wir es wollen.
Alles wird besungen werden mit einer Stimme, heiser von der Straße.

Bist du bereit, den Tod zu bezeugen?

Mann in Militärkleidung: Ja, ich bin bereit.

Chor mit Säcken:
Bist du bereit, auf der Treppe deiner Schule zu schwören,
die vom feindlichen Geschwader getroffen wurde?

Mann in Militärkleidung: Ja, ich bin bereit.

Chor mit Säcken: Rede, Mann, bezeuge jedes dieser Gesichter.
Bezeuge den Wind, der die Städte ausgekühlt hat.
Bezeuge die Stimmen, die die Bewohner der abgebrannten Städte aus dem Schlaf gerissen haben.
Bezeuge den kindlichen Herzschlag an der Grenzstelle.

Schon wird das Feuer entzündet, und die Zögernden fallen auf.
Die Zeit der großen Auslese zwischen Lebenden und Toten beginnt.
Aus der Dunkelheit melden sich jene, die früher fortgegangen sind.
Sie lassen nicht zu, dass wir Angst haben. Sie lassen nicht zu, dass wir stehen bleiben.

© Suhrkamp Verlag

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