Theater der Zeit

Begegnung

Community Music meets Stadttheater

von Alicia de Bánffy-Hall, Lee Higgins und Thalia Kellmeyer

Erschienen in: Arbeitsbuch 2017: Heart of the City II – Recherchen zum Stadttheater der Zukunft (06/2017)

Assoziationen: Europa Bremen Bayern Musiktheater Baden-Württemberg

Alicia de Bánffy-Hall, Foto privat
Alicia de Bánffy-Hall, Foto privatFoto: Alicia de Bánffy-Hall, Foto: privat

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Community Music
von Lee Higgins

Community Musicians beginnen ihre Arbeit mit der festen Absicht, Räume für inklusives und partizipierendes Musikmachen zu schaffen. Oft kommt dieser Impuls von der Überzeugung, dass Musikmachen einen fundamentalen Aspekt menschlichen Erlebens darstellt und dass es aus diesem Grund ein immanenter und grundlegender Teil menschlicher Kultur und Gesellschaft ist. Vor diesem Hintergrund kann musikalischer Ausdruck als ein Schmelztiegel von sozialem Wandel, kulturellem Kapital, Emanzipation und Ermächtigung betrachtet und genutzt werden.

Der Begriff Intervention – eine Art rücksichtsvolle Störung – bezeichnet eine Begegnung mit „Neuem“. Es geht um eine Perspektive, aus der neue Ereignisse die Gegenwart auf eine Weise mit Innovation und positiven Störungen konfrontieren, dass Momente von Transformationen entstehen, wie es der indische Philosoph Homi K. Bhabha beschreibt. Intervenierende Handlungen dieser Art – wie zum Beispiel Workshops anzuleiten, Diskussionen zu begleiten oder Gruppen bei ihren musikalischen Bemühungen zu unterstützen – erfordern durchdachte Strategien, Menschen zu befähigen, mithilfe musikalischer Mittel eine Form des Selbstausdrucks zu finden und angemessene Formen des sozialen Umgangs zu entwickeln. Lernen findet eher über den Bottom-up- als über den Top-down-Ansatz statt. Die Menschen, die im Bereich Community Music arbeiten, haben ein Herz für Ko-Autorschaft, kooperative Gruppenarbeit und eine unumstößliche Überzeugung hinsichtlich des kreativen Potenzials von Gemeinschaften. Aus dieser Haltung heraus werden Einstellungen, Verhaltensweisen und Werte bezogen auf das Musikmachen transformiert, sodass ein Lernen ohne Druck möglich ist und selbst das Komponieren zu einem egalitären Akt wird.1

Community Music in Deutschland
von Alicia de Bánffy-Hall

Obwohl Community Music Schnittmengen mit einigen Feldern wie der Musiktherapie, der Volksmusik, der elementaren Musikpädagogik und der sozialen Arbeit bildet, gibt es keinen Bereich in Deutschland, der sich rein mit Community Music beschäftigt. Es finden jedoch schon lange einzelne Entwicklungen und Aktivitäten statt, die auch in Deutschland als Community Music bezeichnet werden könnten. Dazu gehören viele Musikprojekte, die seit den 1970er Jahren im Feld der Soziokultur und der sozialen Arbeit stattfinden (wie zum Beispiel der „Jam Truck“, ein mobiles Aufnahmestudio in einem Lkw, das in die Stadtviertel fährt und Jugendlichen die Möglichkeit gibt, eigene Lieder zu schreiben und aufzunehmen). Aber auch Projekte, die eher der Musiktherapie zugeordnet werden können, wie das „DrumPower“-Projekt des Freien Musikzentrums München, wo Musiktherapeuten in Grundschulklassen mithilfe von musikalischer Improvisation Gewaltprävention und soziale Integration unterstützen. Die Arbeit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, die ihren Probenraum in der Gesamtschule Bremen-Ost hat und gleichzeitig in Projekten eng mit der Schule und den Anwohnern des Stadtteils zusammenarbeitet, ist ebenso Community Music. Gemeinsam mit der Schulführung, den Lehrern, Schülern und Bewohnern des Stadtviertels werden seit einigen Jahren auf Augenhöhe gemeinsame Opern geschrieben und aufgeführt. In den letzten Jahren haben in Deutschland vermehrt Entwicklungen im Bereich Community Music stattgefunden. Das Feld ist dabei, sich weiter zu etablieren.

Community Music am Theater Freiburg
von Thalia Kellmeyer

Musikvermittlung am Theater gewinnt zunehmend an Bedeutung. In den letzten fünf Jahren haben wir am Theater Freiburg den Bereich der Community Music auf- und ausgebaut. Neben dem bereits bestehenden Kinderorchester und dem Kinder- und Jugendchor gründeten wir zwei interkulturelle Ensembles (Orchester und Chor), die seitdem zu unserem erweiterten Musik- und Musiktheaterensemble gehören. Die musikalischen Laienensembles proben wöchentlich und setzten bereits verschiedenartige Projekte konzertant und szenisch in der Stadt oder im Stadttheater um. Doch es gab auch Höhen und Tiefen, wir stießen sowohl strukturell, inhaltlich, künstlerisch wie auch pädagogisch auf Fragen, Grenzen und Hürden.

Seit dem Jahr 2013 gibt es das multinationale Heim und Flucht Orchester am Theater Freiburg mit Musikern aus Deutschland, Frankreich, Serbien, Rumänien, Syrien, Irak, Senegal und Trinidad, alle zwischen 16 und 30 Jahre alt. An Instrumenten sind momentan die klassischen europäischen Streich-, Blechblas- und Holzblasinstrumente, arabisches Keyboard, Steeldrum, afrikanische Trommeln (u.a. Darbuka) und Oud vertreten. Von Teilnehmern mitgebrachte Melodien werden von dem musikalischen Leiter Ro Kuijpers für die notenkundigen Musiker arrangiert und aufgeschrieben.

Jede Probe zeigt aufs Neue die Herausforderung dieses musikalischen Schmelztiegels: das Überwinden von individuellen und musikalischen Grenzen und Ansichten, sowohl für die Mitspieler als auch für das Team. Ein Einblick in unsere ersten Proben verdeutlicht, dass der altbekannte Spruch „Musik verbindet“ nicht automatisch zutrifft. Neben unterschiedlichen Sprachen gibt es verschiedene Musiksprachen, die unsere Teilnehmer anfangs eher voneinander trennten. Einige der Mitspieler kannten nur die Tradition klassischer Orchester, andere spielten afrikanische Rhythmen, Balkanbeat oder orientalische Melodien nach Gehör. Spielten die einen, rauchten die anderen vor der Tür oder machten Pause. Denn was dem einen Spaß machte, gefiel dem anderen nicht unbedingt. Von einzelnen Teilnehmern gab es zudem Bedenken und Hemmungen, sich auf Neues einzulassen aus Angst vor dem Versagen oder einer Blamage. Mittlerweile haben die „Laien-Profis“ den Mut, das Können, das Vertrauen und vor allem die Lust, miteinander Stücke aus verschiedenen Kulturen zu spielen und zu improvisieren. „Jede Probe entwickelt sich zu einer Party!“, so das Resümee von Ro Kuijpers. Hierzu kann ich aus heutiger Perspektive sagen, dass die neu entwickelte transkulturelle Musik die Teilnehmer eng verbindet. Doch das war ein langer Weg.

Der externe wie interne Erfolg des Heim und Flucht Orchesters (und anderer Projekte mit Freiwilligen) ist der Vision, der integrativen Persönlichkeit, dem musikalischen Können und der Menschenkenntnis des musikalischen Leiters Ro Kuijpers zu verdanken. Er hält das heterogene Ensemble über nun mittlerweile fünf Jahre zusammen, setzt neue musikalische Impulse und geht eine enge persönliche Bindung zu den Musikern ein (versöhnende Gespräche bei gemeinsamem Tee, Konfliktbesprechung etc.). Im Profibereich oder in der Schule können wir uns unsere Vorgesetzten, Mentoren oder Lehrer in der Regel nicht aussuchen. In einem Ensemble, das allein auf freiwilligem Engagement beruht, ist eine einfühlsame und motivierende Leitung unabdingbar für die Stabilität der Gruppe.

Die finanzielle Sicherheit und die Infrastruktur der Institution Stadttheater im Rücken erleichterte damals die Orchestergründung. Probenräume im Theater konnten genutzt werden, Statisten boten Fahrdienste für Flüchtlinge aus abgelegenen Wohnheimen an, die verwendeten Instrumente waren versichert, es gab Auftrittsmöglichkeiten, Organisation und Kosten wurden übernommen. Die Anbindung an die Institution öffnete dem Orchester Türen und vermittelte nach außen eine gewisse Ernsthaftigkeit der Sache. Mittlerweile hat das Heim und Flucht Orchester einen guten überregionalen Ruf, wird zunehmend selbständiger, hat seinen Probenort ausgelagert, wird ein- bis zweimal im Monat für externe Konzerte gebucht (Laien spielen unentgeltlich, die verhandelten Gagen werden in einer Kasse für anfallende Ausgaben angespart), das Orchester hat sogar eine CD aufgenommen und nach und nach die Aufmerksamkeit von Sponsoren geweckt. Eine weitere Zusammenarbeit mit dem Stadttheater birgt für die Institution Theater selbst die große Chance, die geleistete Aufbauarbeit der musikalischen festen Laienensembles für weitere Entwicklungen und Projekte zu nutzen. Mögliche Ansätze dabei sind: 1. die Zusammenarbeit von Laien und Profis zu intensivieren, um ein gegenseitiges Musikverständnis zu ermöglichen, 2. partizipative interkulturelle Projekte auf Recherchebasis zu initiieren, zum Beispiel in Kooperation mit verschiedenen Institutionen/Vereinen der Stadt, und 3. Verantwortung gegenüber den Mitwirkenden und der Stadt zu übernehmen und das Aufbrechen eingefahrener Theater- und Gesellschaftsstrukturen voranzutreiben.

Um bei der Strukturveränderung des Stadttheaters zu bleiben, möchte ich hier auch auf die Arbeit mit den Musikerinnen und Musikern des Philharmonischen Orchesters Freiburg eingehen. Durch die intensive Arbeit mit professionellen Orchestermusikerinnen und -musikern stellte sich mir in den letzten Jahren zum einen die Frage nach den Aufgaben eines „Orchestermusikers der Zukunft“ und damit natürlich auch nach den Grenzen des traditionellen Berufsbildes.

Am Standort Freiburg waren über die Jahre etwa die Hälfte der Musiker aus dem Philharmonischen Orchester offen für neue Ideen aus dem Bereich der Musikvermittlung und engagieren sich nun dafür. Initiativen und Ideen aus den eigenen Reihen werden von Musikerkollegen, auch solchen, die sich nicht aktiv beteiligen, mitgetragen und unterstützt. Bei dem Musikvermittlungsprojekt „Mentored Jamming“ coachten beispielsweise sechs Orchestermusiker für zwei Proben und ein Konzert verschiedene Schülerbands in Freiburg und im Umland im Fach „Bandspiel“. Das Nachgespräch verdeutlichte Zweifel und Bedenken der Profis, die sich selbst als „Nicht-Band-Experten“ bezeichneten und daher die Effektivität (nicht aber die Grundidee) des Projekts infrage stellten und aufgrund des kurzen Zeitraums die Nachhaltigkeit kritisch betrachteten. Wo war hier also der Haken?

Zum einen waren die klassischen Profimusiker als künstlerischer Kopf unterwegs, berieten die Schüler zwar, allerdings in einem (aus Sicht des heutigen Berufsbildes) stilfremden Gebiet, da sie lediglich Banderfahrungen und -begeisterung aus der eigenen Jugend mitbrachten. Die künstlerische Vermittlung wich dadurch der Begeisterung und Freude am Bandspiel. Deswegen stand ein niederschwelliger Austausch im Vordergrund, den die Schüler je nach zwischenmenschlicher Chemie als mehr oder weniger, teils aber auch als sehr bereichernd empfanden. Die Probenbesuche wurden zudem als Dienst angerechnet, was folgende Auswirkungen auf die Dienstanrechnung und den gesamten Orchesterapparat hatte: Während die sechs Band-Coaches die Jugendlichen begleiteten, spielten Orchesterkollegen eine Orchesterprobe oder eine Vorstellung. Instrumentengruppen fingen das Fehlen der Kollegen durch Dienstumverteilung und/oder Dienstübernahme auf. Passiv oder aktiv trug letztlich der ganze Orchesterapparat zur Umsetzung dieses Musikvermittlungsprojekts bei.

Auf ähnliche Herausforderungen stießen wir bei dem zweijährigen Patenprojekt „Klasse! Musizieren!“ mit einer zweiten Klasse einer Freiburger Brennpunktschule. Initiiert von einer Musikerin des Orchesters stand das erste Jahr im Zeichen der Instrumentenvorstellung im Klassenraum. Im zweiten Jahr erhielten die Schüler und Schülerinnen auf ihren selbstgewählten Instrumenten Einzelunterricht von ihren Musikerpaten und -patinnen in den Räumlichkeiten des Theaters.

Nachdem dieses Großprojekt erfolgreich umgesetzt worden ist, gilt es zukünftig Strukturen dafür zu schaffen und in den Orchesterapparat zu integrieren. Dabei ergeben sich folgende Fragen: Wie wird das Projekt vom Haus in Zukunft budgetiert? Welche Prioritäten setzt die Orchesterleitung bezüglich der Spielplangestaltung, und damit einhergehend die Frage: Kann zukünftig der Instrumentalunterricht als Dienst abgerechnet werden? Welche Schrauben müssen in dem komplexen Orchesterapparat (Diensteinteilung versus Spielplangestaltung versus Tarifvertrag) verstellt werden, um derartige Projekte zu integrieren? Gehören solche Projekte zu den Aufgaben eines „zukünftigen Orchestermusikers“? Sollten sie also nicht „zusätzlich“, sondern „stattdessen“ angesetzt werden? Sollten Orchestermusiker Fortbildungen für neue Schlüsselqualifikationen bekommen?

„Um Projekte der Musikvermittlung heutzutage als Dienst vergüten zu können, gibt es beispielsweise die Möglichkeit, innerhalb des Orchesters für den Paragrafen der Mitwirkungspflicht – das ist Paragraf sieben des Tarifvertrags für Musiker in Kulturorchestern (TKV) – eine orchesterinterne Regelung zu finden, sagt Insa Pijanka, Orchesterdirektorin des Staatstheater Kassel. Der Paragraf besagt: „Die Mitwirkungspflicht umfasst zudem die Mitwirkung […] bei vom Arbeitgeber angeordneten Diensten, die sich aus der Zusammenarbeit mit einem Jugendorchester beziehungsweise aus musikpädagogischen Projekten des Orchesters ergeben.“ Für mich stellt sich die Frage, ob es gar an der Zeit ist, den TVK grundsätzlich den aktuellen Veränderungen und Aufgaben des Orchestermusikers anzupassen.

Um abschließend an dem Punkt der zusätzlichen Fähigkeiten eines zukünftigen Orchestermusikers anzuknüpfen, ist zudem die Frage nach einer reformierten Ausbildung zu stellen, die die benötigten Skills den gesellschaftlich veränderten Gegebenheiten anpasst. An einigen wenigen Hochschulen wird dieses Thema schon aufgegriffen. So ist an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart im Studiengang Bachelor Musik das Belegen eines Seminars im Bereich Musikvermittlung bereits Pflicht, so Matthias Hermann, Professor sowie Prorektor für Studium und Studierendenverwaltung an der HMDK Stuttgart. Andere Hochschulen entwickeln neue musikalische Studiengänge, die sowohl U- und E-Musik als auch die pädagogische Arbeit mit Laien nicht gegeneinander ausspielen, sondern miteinander verbinden und vereinen. Doch wie sieht es mit den Musikerinnen und Musikern in unseren Orchestern aus? Könnte eine verpflichtende Weiterbildung für Orchestermusiker die häufigen Grenzen und internen Vorurteile gegenüber Musikvermittlung oder gar Community Music aufheben?

Als Fazit lässt sich sagen, dass das Prinzip Community Music in den letzten Jahren am Theater Freiburg durch die Abteilung Musikvermittlung mindestens einen Fuß in die Tür eines Stadttheaters bekommen hat. In den klassisch gewachsenen Strukturen und aufgrund der konservativen Ansichten verschiedener Kollegen war es nicht immer leicht, die oben genannten Projekte um- und durchzusetzen und auf verschiedenen Ebenen zu diskutieren. Wir haben Niederlagen aufgefangen, aus Erfahrungen gelernt und weiter recherchiert. Angekommen sind wir noch lange nicht. Nimmt das Stadttheater in all seiner Tragweite die oben beschriebenen Ansätze ernst, stößt es weitreichende theaterpolitische Fragen an. Vielleicht kann jedoch nur so ein modernes und lebendiges Musiktheater der Zukunft entstehen.

1 Dieser Abschnitt basiert auf folgendem Kapitel: Higgins, Lee (2017): „Community Music verstehen – Theorie und Praxis“. In: B. Hill & A. de Banffy-Hall (Hrsg.), Community Music – Beiträge zur Theorie und Praxis aus internationaler und deutscher Perspektive (S. 45–61). Waxmann: Münster.

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