Theater der Zeit

Essay

Kollegiale Beratung – eine Herausforderung

Ein Essay

von Anne Richter

Erschienen in: IXYPSILONZETT Jahrbuch 2023: laut & denken (01/2023)

Assoziationen: Debatte SchauBurg Theater der Jugend am Elisabethplatz

Robin und die Hoods, pulk fiktion, Köln 2021.
Robin und die Hoods, pulk fiktion, Köln 2021.Foto: Christian Hermann

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Seitdem Angela Merkel Bundesministerin (ausschließlich – Sic!) für Frauen und die Jugend (1991–94) war und die gesamtdeutschen Theatermacher*innen für und mit dem jungen Publikum sich bei dem Theatertreffen AUGENBLICK MAL! in Berlin treffen, seitdem erlebe ich das Ringen von uns Künstler*innen und Macher*innen um den richtigen Ton und die richtige Form der Auseinandersetzung um die darstellende Kunst für das junge Publikum.

Viele brachten in den 1990er Jahren Erfahrungen von regionale Arbeitstreffen in Ost und Süd mit. Die harte Auseinandersetzung war gefordert, denn nur diese würde langfristig die Qualität der Inszenierungen heben, so das Verständnis von vielen Akteuren und wenigen Akteurinnen der Szene. In einigen regionalen Festivals war der Begriff „Arbeitstreffen“ schon gesetzt (und in Baden-Württemberg z. B. auch finanziert), der Anspruch damit formuliert, dass Festivals in mehrere Richtungen wirken sollen: Sichtbar machen der Sparte bei Fachpublikum, breiteres Angebot für das lokale Publikum und schließlich der Auftrag gemeinsam und kollegial sich und damit die Theatersprachen weiterzuentwickeln und die Qualität zu heben.

Womit die alten Hasen recht haben: Wir Kolleg*innen untereinander können wertvolle Partner*innen in der Weiterentwicklung der darstellenden Kunst füreinander sein. Keine*r hat so viel Fachwissen, Erfahrung, Experimentierfreude und Kreativität wie die Kolleg*innen aus anderen Theatern für junges Publikum und teilt die Leidenschaft oder die Entscheidung mit seiner/ihrer Kunst dem jungen Publikum zu begegnen, in Austausch zu treten und/oder zu arbeiten. Diese große Ressource an Fachwissen und Potenzial kommt vor allem bei Festivals zusammen.

Die (zu weiten Teilen selbstgestellte) Aufgabe lautete: Die Auswertung einer Inszenierung unter Kolleg*innen so konstruktiv zu gestalten, dass die nur gut gemeinte, erwünschte Kritik nicht als Belehrung von dominanten Erklärer*innen der eigenen Ästhetik, Arbeitsweise und/oder Themen erlebt wird. Außerdem musste verhindert werden, dass (selbst bei streng moderierten Runden) die eloquenten Kolleg*innen „siegen“. Denn keine Erfahrung ist mehr wert als die anderer Kolleg*innen.

Das Ringen um Kollegiale Beratung

Viele Modelle wurden in den letzten 20 Jahren auf Theatertreffen der jungen Sparte erprobt um aus diesem Dilemma herauszukommen: Bei der Spurensuche, dem Festival der Freien Kinder- und Jugendtheater, gab es Pat*innen, die in den Gesprächen das weiße Handtuch als Notbremse werfen konnten. Die Patenschaft für eine eingeladene Gruppe war auch darüber hinaus in den Gesprächen gefordert, in denen die erfahrene Theaterwissenschaftlerin und -pädagogin Christel Hoffmann meist erfolgreich für eine konstruktive Atmosphäre sorgte.

In Berlin bei AUGENBLICK MAL! beauftragte die Festivalleitung Journalist*innen damit, einen beschreibenden und bewertenden Einstieg in die Inszenierungsgespräche zu geben. Der kompetente Blick von außen brachte Respekt und Wertschätzung in die Gespräche. Ähnlich verfuhr Baden-Württemberg und beauftragte in Folge den Journalisten Bernd Mand, um zugewandt und humorvoll ebenso einen beschreibend-bewertenden Blick als Einstieg in die Gespräche zu geben. Aber noch immer kamen die Künstler*innen nicht aus der Verteidigung ihrer Arbeit heraus. Die Stoßrichtung wurde als nach hinten, rückwärtsgewandt erlebt, und weniger als stärkend für ihre nächsten Arbeiten.

Eine Feedback-Methode, die komplett in die Zukunft weist, hat die Theaterhochschule Das ARTs in Amsterdam für ihre Regiestudierenden entwickelt. Es ist eine Methode, mit der Künstler*innen untereinander schon sehr früh Ideen, Konzepte, auch Anträge oder erste (szenische) Entwürfe, aber auch Inszenierungen überprüfen können. Die Methode wurde für eine feste Gruppe von Theaterschaffenden, wie z. B. einen Jahrgang einer Hochschule, entwickelt. Die Feedback-Methode von Das ARTs stellten Georg Weinand und Maika Knoblich auf der Tagung der Dramaturgischen Gesellschaft 2013 in München in aller Genauigkeit und auf Deutsch vor. Seit diesem Tag blitzt ein weiteres Ziel in den Auswertungsgespräche einiger Festivals auf: Spaß haben!

Spaß haben, gestärkt aus der Begegnung hervorgehen, die ganze Kompetenz der heterogenen Gruppe von Profis spielerisch für die Feedback-Nehmenden nutzen, all das gelingt mit dieser Methode. Diese setzt sich aus bis zu zehn konkreten, kleinteiligen Runden zusammen, die die Eindrücke aller filtern, strukturieren und dokumentieren. Gleiche Eindrücke werden nicht wiederholt, sondern einfach addiert. Die Bewertung dieser gesammelten Eindrücke obliegt allein den Feedback-Empfangenden. Durch die vielen kurzen Aufträge bekommt die Feedback-Sitzung für alle etwas Spielerisches und Kurzweiliges.

Beschreiben, nicht Bewerten ist Start- und Endpunkt des Austausches. Die Subjektivität der Sprechenden, der Beschreibenden ist Basis für jede Begegnung.

In der Folge diese kurzen Seminars am Ende der Tagung der dg in München machten sich das Festival Hart am Wind mit Matthias Grön und das Arbeitstreffen in Baden-Württemberg mit mir auf den Weg, aus den Impulsen und mit den Methoden der Kolleg*innen in Amsterdam eine deutsche Festivalversion abzuwandeln. In verschiedensten Zusammenhängen variieren die Feedback-Runden der Das-ARTs-Struktur. Humor als ein Ziel ist geblieben.

Gespräche anstiften

2014 gründete sich die Geheime Dramaturgische Gesellschaft aus Personen, die sowohl als Künstler*in wie auch als Vermittler*in aktiv sind. Sie stellen in ihrer Arbeit in wechselnder Besetzung Theaterfestivals und Arbeitstreffen in den Mittelpunkt. „Der Fokus liegt darauf, Austausch, Gespräche und Diskussionen zu gestalten, die auf Augenhöhe zwischen allen Teilnehmenden geführt werden: zwischen Künstler*innen und Zuschauer*innen; zwischen Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern“, ist die Selbstaussage. Auch bei den Formaten der GDG ist das Beschreiben, nicht das Bewerten Start- und Endpunkt des Austausches. Die Subjektivität der Sprechenden, der Beschreibenden ist Basis für jede Begegnung.

Im Mai 2019 gestaltete die Geheime Dramaturgische Gesellschaft die Austauschformate bei AUGENBLICK MAL! in Berlin. Das Festival Wildwechsel hat sie 2021 schon zum 4. Mal begleitet. Generationsübergreifende Gesprächsformate und solche für Fachbesucher*innen und die Gemeinschaft der Künstler*innen konzipieren sie und legen immer großen Wert auf die Sichtbarkeit des Gesprächs. Ob als wachsende Installation wie das „Basislager“ oder mit dem offenen Feedbackbrief an die Festivalverantwortlichen: Ziele sind Offenheit, Transparenz und Weiterentwicklung des jeweiligen Festivals.

Zurück zum Spaß. Natürlich gehört Turbo Pascal in diesen Essay. Das Performance-Kollektiv entwickelt sowohl Performances, die das Theater zum Verhandlungsraum gesellschaftlicher Prozesse wie auch Gesprächs- und Begegnungsformate. Auch das ist eine Kunst. Sie haben bei AUGENBLICK MAL! (2017 schon) für eine lustvolle und überraschende Begegnung zwischen dem Fachpublikum gesorgt. Wir haben uns bei „Warm denken“ aufgewärmt, haben uns vor Selbstaussagen positioniert und im Gespräch gefetzt. Ich sage nur „Sorry“ und gut war es. Auch das digitale Festival 2021 schreckte sie nicht ab und auf gather.town trafen wir uns zur Afterhour. Die Publikums- und Inszenierungsgespräche verantworteten ein dafür zusammengestelltes Team, das einen körperlichen Meinungsaustausch selbst vorm Bildschirm anregte. So tanzten die Avatare der Festivalteilnehmer*innen gemeinsam und ließen Herzchen mit dem kleinen Finger zur Selbstaussage aufsteigen, bis die Netzwerkverbindung abriss.

Wir können und müssen unsere Kompetenzen in der kollektiven Beratung weiterentwickeln. Im ständigen Austausch mit unserem Publikum sind wir geübt, diese Methoden entwickeln wir stetig weiter. In der kollegialen Beratung können wir noch besser werden. Sie ist eine Kunst, die unsere Sparte auszeichnet und die auch ständiger Innovation bedarf. Lasst uns systemische Fragetechniken einüben, lasst uns die Feedback-Empfangenden fragen, was genau sie an einem Feedback interessiert, lasst uns im Raum gemeinsam Positionen einnehmen, lasst uns das Zuhören verstärken und lasst Feedback-Installationen wachsen.

Lasst uns die regionalen Festivals und AUGENBLICK MAL! nutzen, lasst uns von unseren Erfahrungen mit Begegnungsformaten mit dem Publikum auch im kollegialen Austausch profi tieren. Es gibt keine fundierteres Feedback zu unserer Arbeit, als das von Kolleg*innen. Es kann frei von Bewertung, kurzweilig und spielerisch und subjektiv sein, und damit allen Beteiligten Freude bereiten und weiterhelfen.

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