Theater der Zeit

Musiktheaterschaffende im Gespräch

Barrie Kosky

von Rainer Simon und Barrie Kosky

Erschienen in: Recherchen 101: Labor oder Fließband? – Produktionsbedingungen freier Musiktheaterprojekte an Opernhäusern (02/2013)

Assoziationen: Regie Musiktheater Ozeanien

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Barrie Kosky, 1967 in Melbourne, Australien geboren, ist Sprech- und Musiktheaterregisseur. 1996 war er Künstlerischer Leiter des Adelaide Festivals, von 2001 bis 2005 Co-Direktor des Wiener Schauspielhauses. Seit 2012 ist er Intendant und Chefregisseur an der Komischen Oper Berlin. Für seine Inszenierung von Aus einem Totenhaus an der Staatsoper Hannover erhielt er 2009 den Theaterpreis Der Faust, für seine Inszenierung von Castor und Pollux an der English National Opera 2011 den Laurence Olivier Award.

RS: Welche Fähigkeiten von Opernsolisten erschweren beziehungsweise fördern die Produktion freien Musiktheaters? Welche Kompetenzen für Musiktheater, wie zum Beispiel Ihre Poppea am Schauspielhaus Wien, besitzen sie beziehungsweise besitzen sie nicht?

Barrie Kosky: Wir haben es im deutschsprachigen Opern-, Theater- und Tanzsystem heute oft mit einer „Schubladenpraxis“ zu tun: Ein Sänger singt. Ein Schauspieler spricht. Und ein Tänzer tanzt. Das ist nicht nur für experimentelle Projekte, sondern für jede Art von Theaterproduktion problematisch. Denn egal ob experimentell oder nicht – ein Darsteller auf der Bühne ist nie nur mit seiner Stimme, seinem Körper oder seiner Sprache, sondern immer als Ganzes mit Köper, Stimme und Sprache anwesend und wahrnehmbar. Also muss er all dies auch einsetzen können. Das Instrument, das er spielen können muss, ist sein ganzer Körper. Wenn zum Beispiel ein Darsteller zu mir sagt: „Ich kann nicht tanzen!“, frage ich mich, was er dann auf der Bühne sucht. Nicht unbedingt, weil er konkret in der und der Szene tanzen soll, sondern weil ich ganz allgemein nicht verstehe, dass er anscheinend eine wesentliche Fähigkeit als Darsteller – seinen Körper zu bewegen – nicht besitzt. Einen Musiker, der sein Instrument nicht richtig spielen kann, würde man ja auch fragen, warum er denn dann im Orchestergraben sitzt.

Meiner Erfahrung nach haben die konkreten Darstellerschubladen mit einem ganz grundsätzlichen Schubladendenken in Deutschland zu tun, das ich so aus anderen Kulturkreisen nicht kenne: Man ist das und das – Lehrer, Bäcker, Banker – und macht dann auch nur das und das. Woanders wechseln Menschen ihren Beruf ja zehnmal innerhalb ihres Lebens! Schaut man mal über den deutschen Theatertellerand hinaus, dann sieht man schnell, wie vielseitig Darsteller in anderen Kulturen auf der Bühne agieren. In der chinesischen Oper oder im japanischen No- oder Kabuki-Theater müssen die Darsteller singen, spielen, sprechen, Akrobatik betreiben und tanzen. Und eigentlich brauchen wir überhaupt nicht nach Asien zu schauen, sondern können einfach zurück zu den Anfängen der westlichen Theatertradition gehen. Auch im griechischen Theater waren die Darsteller auf unterschiedlichste Weise künstlerisch tätig. Die Stücke von Aischylos oder Euripides sind im Grunde Musiktheaterstücke beziehungsweise -rituale, eine Art ganzheitliche Theaterform, bei der vom Darsteller alle nur erdenklichen Bühnenhandlungen abverlangt werden.

Seit etwa vierhundert bis fünfhundert Jahren hat sich im westlichen Kulturkreis allerdings das Betätigungsfeld von Darstellern immer mehr verengt, was zu einer einseitigen Spezialisierung geführt hat. Heute sehen wir, wie fatal diese Schubladen sind: Opernsänger beherrschen es oftmals nicht, auf der Bühne zu sprechen; Tänzer genauso wenig. Und wenn ein Schauspieler singt, ist das auch oft problematisch. Selbstverständlich gibt es auch einige Darsteller, die all dies beherrschen – wunderbar! Auf solche Darsteller trifft man vor allem auch in einem Theaterbereich, der in Deutschland häufig in die negativ besetzte Unterhaltungsschublade gepackt wird: Musicals verlangen bereits von ihrer Form her, dass ein Musical-Darsteller singen, sprechen und tanzen können muss. Wenn ein Darsteller all diese Voraussetzungen dann tatsächlich bestens erfüllt, spricht man im Englischen von einem „triple threat“.

Dazu werden die Musical-Darsteller allerdings auch ausgebildet und da befinden wir uns an einem entscheidenden Punkt! Denn das Schubladendenken im Theater, in der Oper oder im Tanz bestimmt nicht erst die professionelle Theaterpraxis, sondern wirkt bereits zu Beginn einer Darstellerkarriere – in der Ausbildung. Eigentlich gibt es ja genügend talentierte Menschen. Aber die müssen auch richtig gefördert werden. Die Fähigkeiten, über die wir hier sprechen, sind ja nie per se vorhanden, sondern müssen auch entwickelt werden. Gerade zu Beginn ihrer Ausbildung sind junge Menschen sehr empfänglich, sodass sich jede darstellerische Erziehung langfristig bemerkbar macht. Da das deutsche Ausbildungssystem die jungen Künstler in verschiedene Rubriken presst, indem es vorgibt: „Du wirst ein Sänger, der singt. Und du wirst ein Tänzer, der tanzt!“, schleppen diese ihre Schubladen oft ein ganzes Bühnenleben mit sich. Auch wenn sie vielleicht die Begabung zur Vielseitigkeit hätten, werden sie zu engstirnigen Spezialisten erzogen. Natürlich gibt es auch Ausnahmen. Eine kleine Minderheit an Operndarstellern kann tatsächlich alles machen.

RS: Mit der Spezialisierung der Sänger und insbesondere der Stimmen ist auch eine andere Tradition verknüpft: der Ensemblegedanke, der darin besteht, dass eine Gruppe von fest engagierten Sängern die verschiedenen Fächer des an einem Haus gespielten Repertoires abdecken. Worin bestehen die Chancen und die Schwierigkeiten eines Ensemblebetriebs für freie Musiktheaterproduktionen wie zum Beispiel Ihre Wiener Poppea oder den freieren Projekten, die Sie für Ihre Intendanz an der Komischen Oper Berlin planen?

BK: Grundsätzlich halte ich den Ensemblegedanken für wunderbar! Dadurch dass sich die Darsteller in einem Ensemble kennen und vertrauen, können sie Dinge ausprobieren, etwas wagen und riskieren. Das ist sicherlich für experimentelle Projekte, aber auch für normale Opernproduktionen, in denen ja auch Einfallsreichtum und Kreativität verlangt werden, sehr wichtig. Damit diese Experimentierfreudigkeit allerdings am Leben gehalten und ein Ensemble nicht bequem wird, benötigt es auch immer Einflüsse und Irritationen von außen. Das heißt, dass man immer auch Gäste engagieren und als Teil der Familie ins Ensemble integrieren muss. Auch hier darf es keine Schubladen – Ensemble versus Gäste – geben. Vielmehr muss das etwas Fließendes, Flexibles haben.

Gäste sind natürlich auch vonnöten, um der Vielseitigkeit von Musiktheater gerecht werden zu können. Wenn man, wie wir an der Komischen Oper Berlin, versucht, einen Spielplan mit den unterschiedlichsten Musiktheaterformen zu erstellen, ist es unmöglich, ein Ensemble so zu bauen, dass es alles abdecken kann. Selbst wenn man überaus spielfreudige und vielseitige Ensemblemitglieder hat, ist die Bandbreite an Musiktheaterformen zu groß, als dass dreißig Ensemblesänger das alles singen und spielen könnten. Das heißt, ich muss auch um der Vielseitigkeit willen Gäste hinzuziehen.

Jedes Projekt – ob experimentell oder nicht – wird dann gleichzeitig von zwei Seiten aus angegangen. Einerseits: „Wir machen dieses Projekt. Was brauchen wir dafür an Darstellern? Müssen wir noch Gäste hinzuziehen?“ Und andererseits: „Wir haben diese Menschen im Ensemble. Welche Projekte können wir mit ihnen machen, für sie bauen?“ Wenn man zeitgleich diese beiden Perspektiven einnimmt, dann lassen sich alle möglichen Projekte bestens realisieren. In solch einer flexiblen Form halte ich ein Ensemble also auch für freiere Formen für geeignet.

RS: Im weitesten Sinne sind ja auch die großen Kollektive, Chor und Orchester, Teil eines Opernensembles: Wie lassen sich die Opernkollektive in freieren Musiktheaterproduktionen einsetzen? Gerade wenn wir an etwas verrücktere Projekte denken und nicht an traditionelle Opernproduktionen.

BK: Chöre und Orchester sind als Kollektive mitunter konservativ. Das liegt in der Natur von Gruppen. Vor allem wird es schwierig, wenn es um zeitgenössische Musik geht, die schwer zu erlernen und zu singen beziehungsweise zu spielen ist sowie viel Arbeit und eine hohe Konzentration erfordert. Selbstverständlich gibt es auch Kollektive – und da sind wir an der Komischen Oper Berlin in einer sehr glücklichen Situation –, die sich auf derartige Herausforderungen einlassen. Das ist letztlich bei weitem nicht so eingefahren, wie es das gängige Klischee vermuten lässt. Sowohl Chöre als auch Orchester lassen sich auch für verrückte, neue Projekte gewinnen. Es ist der Job der Menschen, die solche Projekte konzipieren und leiten – Intendanten, Regisseure, Dirigenten, Komponisten – die Beteiligten zu inspirieren und davon zu überzeugen. Es geht schief, wenn man einfach nur sagt: „Wir machen das und das und das.“ Vielmehr muss man den Beteiligten für jedes einzelne Projekt Gründe geben. Wenn Künstler – Orchester- oder Chormitglieder – verstehen, worin ein Projekt besteht und warum es gerade zu der Zeit an diesem Haus durchgeführt wird, sind sie letztlich zu fast allem bereit. Inspiration und Offenheit entstehen dort, wo sich die Beteiligten eingebunden fühlen und vermittelt bekommen, warum sie etwas tun. Leider kommunizieren viele künstlerisch Verantwortliche viel zu wenig. Und das führt dann zu großen Problemen.

Als ich zum ersten Mal hier an die Komische Oper Berlin zum Inszenieren kam, musste noch jeder neue Regisseur dem Orchester dreißig Minuten lang seine Konzeption darlegen. Das war eine gute Initiative von Andreas Homoki und stieß bei den Orchestermusikern auf sehr positive Resonanz. Inzwischen findet das nicht mehr statt und prompt gibt es auch diverse Probleme. Bei Fidelio haben die Musiker zum Beispiel erst während der Bühnenorchesterproben von einem Gitter über dem Orchestergraben erfahren und sich dann darüber massiv beschwert. Hätte das Regieteam sechs Wochen vorher erklärt, warum es das vorsieht, wäre das sicherlich nicht passiert. Es geht also vor allem um Kommunikation und Involvierung. Wenn beides praktiziert wird, dann lassen sich auch mit den Chören und Orchestern verrückte Projekte durchführen.

RS: Gibt es neben einem Kommunikations- und Involvierungsdefizit nicht auch noch strukturelle Einschränkungen – wie eben Tarifverträge? Aufgrund derer kann man ja zum Beispiel nicht einfach sagen: „So, wir setzen das Orchester jetzt auf die Bühne!“

BK: Sicherlich gibt es die. Diese strukturellen Dinge sind allerdings nur sehr schwer und langsam zu verändern. Das geht nicht einfach so: (Barrie Kosky macht ein Explosionsgeräusch.)! Wir müssen ja auch 170 Vorstellungen pro Jahr spielen, von denen nicht 150 freie, verrückte Projekte sein können. Vielseitigkeit bedeutet für mich auch, traditionellere Formen zu zeigen. Und dafür sind diese Strukturen nicht nur schlecht.

Außerdem ist innerhalb des Tarifsystems auch Vieles möglich. Es ist weit flexibler als viele annehmen. Der Schlüssel dazu ist abermals die Kommunikation. Wenn man von den Produktionsbeteiligten in einem ersten Gespräch etwas Außergewöhnliches verlangt, wird man vielleicht zuerst zu hören bekommen: „Das geht nicht! Wir möchten nicht nackt auf der Bühne sein.“ Wenn man allerdings im Gespräch bleibt, den Dialog sucht und immer wieder erklärt, warum man das aus künstlerischer Sicht für notwendig erachtet, dann ist vielleicht nicht Alles, aber Vieles möglich.

Ehrlich gesagt bin ich erstaunt darüber, wie schlecht Deutsche im Kommunizieren sind – vor allem innerhalb des künstlerischen Systems! Und das geht den meisten ausländischen Künstlern, die hier arbeiten, so. Sie sind zwar von der unglaublichen Theater- und Opernlandschaft begeistert. Was allerdings einfache Kommunikationsprobleme anbelangt: „Puh!“

RS: Sie würden also sagen, das System an sich ist eigentlich gut. Es wird nur nicht richtig genutzt und produktiv gemacht?

BK: Es wird nicht richtig, nicht produktiv und auch nicht selbstkritisch genug genutzt! Diese Kombination von Faktoren ist leider nicht vorhanden.

RS: Bei Poppea am Schauspielhaus Wien haben Sie Claudio Monteverdi mit Cole Porter gemischt; am Deutschen Theater Berlin haben Sie August Strindbergs Traumspiel mit Passagen aus Don Giovanni kombiniert. Inwiefern ist der traditionelle Opernbetrieb, so wie Sie ihn kennengelernt haben, geeignet oder ungeeignet für derartige Kombinationen, für den Einsatz Neuer Medien und Materialcollagen?

BK: Cole Porter und Monteverdi miteinander zu kombinieren stellt für mich, ehrlich gesagt, überhaupt keine besonders verrückte, sondern eine vollkommen natürliche Angelegenheit dar. Und für alle Darsteller, die an diesen Projekten beteiligt waren, war das wie selbstverständlich. Ich beobachte, dass es auch hinsichtlich dieser Frage große kulturelle Unterschiede gibt. Im englischsprachigen Raum, in Großbritannien, den USA und Australien, sind die Grenzen zwischen „E- und U-Musik“ weit durchlässiger als in Kontinentaleuropa, sodass das Musik- und Sprechtheater viel stärker von der Popkultur beeinflusst ist. Darüber hinaus bemerke ich, dass jene Grenzen auch weltweit seit einigen Jahren mehr und mehr überschritten werden. Allein die traditionellen, kontinentaleuropäischen Kulturen – Frankreich, Italien, Deutschland etc. – scheinen sich dieser Veränderung nach wie vor zu widersetzen; Deutschland sogar noch einmal mehr, da es besessen von reinen Formen ist. Und auch die Skepsis gegenüber dem Einsatz von neuester Technik in der Kunst ist hier viel stärker. Das sieht man schon allein, wenn man die technischen Anstrengungen einer Broadway-Show mit denen einer deutschen Repertoirevorstellung vergleicht.

Wenn die dominierenden kulturellen Strömungen sich jenen technischen und grenzüberschreitenden Entwicklungen entziehen, bekommt man in unserer heutigen Zeit ein Problem, ja wird von ihr abgehängt. Das heißt nicht, dass nun jede Produktion grenzüberschreitend und mit den neuesten Techniken ausgestattet sein müsste. Ich kann auch etwas Neues über mich, mein Leben und meine Zeit erfahren, wenn ich eine puristische Traviata sehe oder inszeniere. Ich wünsche mir lediglich eine Öffnung gegenüber diesen anderen Möglichkeiten.

RS: Und diese Öffnung muss weniger in den Strukturen der Betriebe als in den Köpfen der Musiktheaterschaffenden stattfinden?

BK: Ja. Und dabei muss auch berücksichtigt werden, in welcher Zeit und in welcher Realität das Publikum, für das wir die Produktionen machen, lebt. Es ist unglaublich, wie wenig man sich in deutschen Kulturbetrieben mit den Zuschauern und deren Psychologie auseinandersetzt – fast überhaupt nicht!

RS: Welche Vor- und Nachteile bietet eine traditionelle Probendisposition freien Musiktheaterproduktionen, wie Poppea? Mit traditioneller Probendisposition beziehe ich mich zum Beispiel auf die Probenzeiträume von vier bis acht Wochen.

BK: Das ist eine Katastrophe, ja beinahe Antikunst! Eigentlich steht die traditionelle Probendisposition an deutschen Opernhäusern im Widerspruch zu den eben beschriebenen Entwicklungen und zu dieser Art Projekte. Für Poppea haben wir zum Beispiel drei Monate lang geprobt. An einem kleinen Schauspielhaus ist das vielleicht noch bei besonderen Projekten möglich. Aber an einem großen Staatstheater kann keiner drei Monate Proben für solch ein Projekt disponieren – an einer Oper? Vergessen Sie es!

Die Komische Oper Berlin stellt eine gewisse Ausnahme dar, da wir hier immerhin acht Probenwochen zur Verfügung haben. In den meisten deutschen Häusern werden nur sechs, im Ausland sogar häufig nur vier bis fünf Probenwochen disponiert – wenn Stars in der Produktion engagiert werden, noch einmal weniger. Mit so wenig Zeit ein Projekt zu bauen, das noch zu entwickeln ist und dafür eben gerade Zeit benötigt, ist unglaublich schwer. An der Komischen Oper Berlin versuchen wir daher das System zu flexibilisieren und durch eine Balance zwischen normalen und experimentelleren Projekten auch Freiräume für letztere zu gewinnen. Glücklicherweise ist die Komische Oper Berlin bereits viel flexibler als andere Häuser!

RS: Ein anderer Aspekt, der mich bezüglich der Probendisposition interessiert, besteht in der Tatsache, dass Abteilungen und Künstler an Opernhäusern oft sehr lange getrennt voneinander arbeiten. Oft treffen alle Beteiligten erst in der letzten Probenwoche aufeinander: Welche Vor- und Nachteile bietet dieses über lange Zeiträume hinweg getrennte Arbeiten der Abteilungen und Künstler an traditionellen Opernhäusern freien Musiktheaterproduktionen?

BK: Wir alle sind sehr beschäftigt. Daher ist es manchmal schwierig und auch nicht unbedingt notwendig, alle Produktionsbeteiligten immer einzubeziehen. Bei experimentelleren Projekten, bei denen die Beteiligten oft nicht wissen, auf was sie genau hinauslaufen werden, müssen sie allerdings früher als bei gewöhnlichen Produktionen eingebunden werden. Denn es ist wichtig, dass sie möglichst bald eine Vorstellung davon entwickeln, wohin der weitestgehend unbekannte Weg gehen könnte. Auch ein regerer Austausch während der Produktion ist erforderlich, da sich solche Projekte oft sehr schnell verändern. Ansonsten arbeitet man womöglich immer noch an einer wichtigen Sache, die eigentlich bereits vor einer Woche verworfen wurde.

Grundsätzlich sollte das Projekt den Prozess definieren. Leider ist es im derzeitigen Theatersystem genau umgekehrt! „Das System funktioniert soundso und dann müssen wir das Projekt eben dementsprechend gestalten!“ Das ist aber vollkommen falsch. Eigentlich müsste man bei jedem Projekt individuell danach fragen, welche Struktur, welcher Prozess und welche Produktionsbedingungen für genau diese Form geeignet wären. Aber das ist eine Utopie – der wir allerdings hier an der Komischen Oper Berlin nachzugehen versuchen.

RS: Die Komische Oper Berlin hat, wie so viele andere Opernhäuser, eine Guckkastenbühne: Inwiefern eignet sich der Guckkasten für freie, experimentellere Formate?

BK: Das Proszenium-Theater ist das Proszenium-Theater. Das ist nicht das flexibelste Theater der Welt. In solchen Projekten wird ja häufig auch mit den Räumen experimentiert. Dazu bieten „found spaces“ oder „black boxes“ sicherlich mehr Möglichkeiten, da diese Räumlichkeiten meist wandelbarer sind und man neue Raumsituationen schaffen kann. Ich beobachte, dass seit zwanzig Jahren die Anzahl der zweiten Spielstätten – meist „black boxes“ – an Opernhäusern stetig zunimmt. Dieses Jahr wurde zum Beispiel an der Semperoper eine kleine, zweite Spielstätte eröffnet. Die Häuser bemerken einfach, dass sich solche Projekte besser in flexibleren Räumen realisieren lassen. Ich finde das grundsätzlich super!

Das einzige Problem, das ich damit habe, besteht in der Gefahr, dass diese gute und einfache Antwort zu einer bequemen Antwort wird: „Kleiner Raum – verrückte Projekte! Der Rest bleibt, wie es ist!“ Auch in den räumlichen Gegebenheiten des Guckkastens kann man ja durchaus experimentieren und Neues entwickeln. Das ist eine Aufgabe, der wir uns an der Komischen Oper Berlin zwangsläufig stellen müssen, da wir hier keine zweite Spielstätte haben und daher alle freieren Projekte im Guckkasten herausbringen müssen. Da gibt es natürlich auch spannende Optionen. Eine zweite Spielstätte darf nicht zum Alibi für ein „Weiter so!“ auf der großen Bühne werden; auch hier muss Neues erprobt werden. Dafür kann der Austausch mit einer experimentelleren Zweitbühne nützlich und produktiv sein. Projekte im kleinen Raum können zum Motor für Produktionen auf der großen Bühne werden.

RS: Opernhäuser sind meist die Opernhäuser einer Stadt und können somit einen künstlerischen Austausch zwischen Stadt und Opernhaus bewirken. Freie Musiktheaterproduktionen hingegen touren ja oft. Worin sehen Sie die Vor- und die Nachteile der lokalen Angebundenheit von Opernhäusern für freie Musiktheaterproduktionen?

BK: In der Vergangenheit hatte das Opernhaus einer Stadt nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine soziale Funktion. Es war ein öffentlicher Treffpunkt für die Bürger einer Stadt. Meine Großmutter in Budapest ging jede Woche in die Oper, wo sie eine feste Loge reserviert hatte. Dabei hat sie sich nicht gefragt: „Ach, was steht denn heute auf dem Programm?“, sondern wollte vielmehr ihre Freunde sehen. Die Kirche, der Marktplatz und eben die Oper waren die Orte, an denen man sich getroffen hat.

Das hat sich grundlegend geändert. Das Opernhaus stellt heute ein Symbol für bürgerliche Sicherheit und einen Kunsttempel innerhalb einer säkularen Welt dar. Seine Funktionen sind ausschließlich bürgerlichrepräsentative und ästhetische. Für mich stellt es eine große Herausforderung dar, auch wieder die soziale Dimension stark zu machen, eine tiefe Verbindung zwischen dem Opernhaus und der Stadt herzustellen und dadurch deren Bewohner zu erreichen. Das geht nicht nur mit freieren Projekten, sondern auch mit traditionellem Repertoire. Das Haus muss nur offen und lebendig sein. Die Offenheit und die soziale Zugänglichkeit eines Hauses bemessen sich übrigens nicht an der Menge der Abonnements. Überhaupt kommt es nicht unbedingt auf die Anzahl der Besuche pro Bürger an. Vielmehr geht es darum, ein Bewusstsein bei den Bürgern zu schaffen, warum ein Opernhaus existiert und warum es ihr Opernhaus ist – egal, ob sie es nun sechs- oder einmal pro Spielzeit besuchen.

Zu diesem Ansatz steht natürlich im Widerspruch, wenn ein Opernhaus – wie so viele heute – nur eine Durchgangsstation für internationale Koproduktionen und Gastspiele ist: „Next! Next! Next!“ Denn dadurch werden immer nur die gleichen Produktionen immer nur den gleichen Menschen gezeigt. Und das ist dekadent!

RS: Zu einer solchen Vorstellung von städtischem Opernhaus gehört ja traditionellerweise auch dessen Organisation als Repertoirebetrieb, an dem der Bürger einer Stadt fast jeden Abend eine andere Repertoirevorstellung besuchen kann. Worin bestehen nun die Vor- und Nachteile eines Repertoirebetriebs für freie Musiktheaterproduktionen? Kann man das überhaupt zusammendenken – experimentelle Projekte und Repertoire – und wenn ja, inwiefern?

BK: In der Komischen Oper: Ja. Denn zur Tradition und zur Identität des Hauses gehört es, eine große Bandbreite an Musiktheater zu zeigen und auch ins Repertoire aufzunehmen. Und zu dieser Bandbreite aktuellen Musiktheaters gehören eben auch freiere Projekte. Dabei stehen wir vor der Herausforderung, eine Balance zwischen verschiedenen Formen und Genres zu finden. Die experimentelleren Projekte dürfen nicht nur einen Gimmick fürs Feuilleton darstellen: „Schau mal! Wir machen das!“, sondern müssen sich ins Programm, in die Zusammenstellung der anderen Stücke organisch und inhaltlich sinnvoll einfügen.

Gerade hierbei haben die großen, eher traditionellen Häuser ihre Schwierigkeiten. Denn an den Staatsopern in München, Frankfurt oder Hamburg möchten die Abonnenten ihre sechs bis sieben Premieren von Stücken sehen, die sie kennen und von denen sie wissen, was auf sie zukommt. Sie möchten wissen, welches Stück aufgeführt wird. Sie möchten wissen, wer singt, wer dirigiert. Es gibt ja auch viele Menschen, die nicht unbedingt in die Oper gehen, um neue Erfahrungen zu machen, sondern vielmehr um eine schon gemachte Erfahrung noch einmal zu wiederholen. Sie wollen das Stück noch einmal sehen, den Sänger noch einmal hören, den Dirigenten noch einmal erleben. Und diese Nostalgie beglückt sie. Das ist ja auch O. K. Da wird es dann nur schwierig, experimentelle Projekte sinnvoll und natürlich einzuflechten. Denn die inhaltliche Diskrepanz ist dann doch ziemlich groß. Und im Vergleich führt das häufig zu einer unfairen Beurteilung des Neuen und Anderen.

RS: Stücke aus dem Repertoire und freiere Projekte lassen sich Ihrer Ansicht nach also an Häusern wie der Komischen Oper Berlin kombinieren. Und was den Repertoirebetrieb anbelangt? Mit dem gehen ja zum Beispiel verschiedene Besetzungen einher. Inwiefern passt das zusammen mit freieren Projekten?

BK: Überhaupt nicht! Das ist wie Öl und Wasser! Denn wenn man ehrlich ist, möchte man eine Produktion, wenn sie erfolgreich ist, immer in der Originalbesetzung sehen. Dafür wäre zum Beispiel ein Stagione-System mit Ensemble vorstellbar, innerhalb dessen eine Produktion nach zwei Jahren abgespielt wäre! Das ist allerdings fast unmöglich! Oder man könnte die Stücke ein Jahr lang spielen und bei einem Erfolg nach zwei Jahren wieder zurückholen. Das versuchen wir gerade an der Komischen Oper Berlin. Einfach, um eine Alternative zu der Praxis zu entwickeln, Vorstellungen sechs, sieben, acht, neun oder gar zehn Jahre ständig im Repertoire zu haben. Selbstverständlich ist das auch eine Geldfrage. Denn man hat eine Inszenierung, ein Bühnenbild, Kostüme – alles ist da. Dann muss man diese Sachen natürlich auch benutzen und die Stücke spielen.

Das Repertoiresystem ist auch Teil der Tradition. Denn es ist eng mit der Theaterpraxis des 19. und 20. Jahrhunderts verknüpft. Wenn wir in Rechnung stellen, dass sich heutige Programme teilweise auch von dieser Praxis entfernen, könnte ich mir vorstellen, dass es in fünfzig Jahren womöglich einen veränderten Spielbetrieb gibt. Im Grunde beobachtet man ja jetzt schon eine Entwicklung hin zum Semi-Stagionebetrieb. Die Frage, welchen Spielbetrieb wir in Zukunft haben werden, ist eine spannende, die ich heute allerdings nicht beantworten kann.

RS: Sie sind gerade schon in einem Satz auf die Produktionsfinanzierung zu sprechen gekommen, an den ich mit meiner letzten Frage anknüpfen möchte: Welche Vor- und Nachteile bietet die Produktionsfinanzierung in traditionellen Opernbetrieben freien Musiktheaterproduktionen?

BK: Die weitestgehend sichere Finanzierung der Häuser ist super! Vor allem auch für mich als Australier, der ich aus einem anderen System komme. Allerdings müssen wir diese finanzielle Sicherheit auch produktiv nutzen. Denn sie kann auch leicht zu Bequemlichkeit und Routine führen – gerade auch bei der Produktion von freieren Projekten. Man kann ja angesagte, freie Köpfe und Projekte einfach so kaufen, um sich mit ihnen zu schmücken: „Wir sind so jung und experimentell!“ Auf eine bequeme Weise verschafft man sich dadurch kurzfristig Aufmerksamkeit. Mehr aber auch nicht. Weit nachhaltiger und inhaltlich sinnvoller ist es, gemeinsam ein Projekt zu entwickeln und den Künstlern dabei einen möglichst großen kreativen Freiraum zu schaffen. Dafür sind die finanziellen Ressourcen eines Hauses natürlich gut. Dafür sollen sie auch eingesetzt werden.

Im Grunde läuft alles darauf hinaus, dass wir mit dem bestehenden System einen Dialog führen und dadurch dessen Möglichkeiten und Grenzen ausloten. In vielen Punkten lässt sich die bereits bestehende Struktur flexibilisieren. In einigen anderen muss sie völlig neu gedacht und gebaut werden, um freiere Projekte produzieren zu können. Wie man das genau macht, stellt die wesentliche zukünftige Herausforderung für die Verantwortlichen der Häuser dar.

RS: Vielen Dank für diese abschließenden Bemerkungen sowie das gesamte, interessante Gespräch, Herr Kosky!

Das Gespräch wurde am 5. Januar 2011 in Berlin geführt.

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