Theater der Zeit

Auftritt

Deutsches Nationaltheater Weimar: Unterwegs in ostdeutschen Schuhen

„dumme jahre“ von Thomas Freyer (UA) – Regie Tilmann Köhler, Bühne Karoly Risz, Kostüme Susanne Uhl, Musik Matthias Krieg

von Michael Helbing

Assoziationen: Theaterkritiken Thüringen Tilmann Köhler Deutsches Nationaltheater & Staatskapelle Weimar

Tanz durch die Zeit: Raika Nicolai, Nadja Robiné, Fabian Hagen, Anna Windmüller und Philipp Otto (von links) in "dumme jahre". Candy Welz/DNT Weimar
Tanz durch die Zeit: Raika Nicolai, Nadja Robiné, Fabian Hagen, Anna Windmüller und Philipp Otto (von links) in "dumme jahre".Foto: Candy Welz/DNT Weimar

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Die ersten Worte in dieser Uraufführung stammen nicht vom Autor des Stückes, sondern von Depeche Mode. Das passt schon deshalb, weil die britische Pop-Band in den 1980er Jahren in der DDR – Zeit und Ort werden eine größere Rolle spielen - eine besonders große Fangemeinde hatte (es gibt inzwischen sogar einen Dokumentarfilm darüber). „I'm not looking for a clearer conscience, peace of mind after what I've been through…”, singt das Spielerquintett, das in den nächsten 110 Minuten mit Liedern zu Live-Klängen des Musikers Matthias Krieg wiederholt mehrstimmig eine sinnfällige Kommentarebene erklimmt, darunter mit vergessenen Ostschlager wie „Es fängt ja alles erst an“ und „Ein Jahr ist ein Hauch“, aber auch mit dem Lied der Wolgatreidler.

„Walking in my shoes“ heißt der indes der Einstiegssong gegen das schlechte Gewissen. Und genau das versuchen sie dann auch: in die Schuhe derjenigen zu schlüpfen, die sich damit durch die DDR als richtige Heimat und Unrechtsstaat sowie schließlich aus ihr heraus bewegten, die dabei mal ein bisschen vorankamen, oft genug aber stecken blieben und auf der Stelle traten, die sich auf vorgezeichneten und ausgetretenen Pfaden halbwegs sicher, aber unfrei bewegten und mindestens in Straucheln gerieten, wenn sie vom Wege abwichen.

„Wir haben eigentlich“, hatte der Bruder der Hauptfigur später am Telefon gesagt, „ganz gut gelebt in der DDR (...) Man hatte seine Ruhe. Mein Leben war nicht Stasi und Mauer.“ Aber Regine, die davon erzählt, dachte dabei an Matthias, der sich außerhalb des Systems stellte und schlussendlich auf die Bahngleise legte. Vielleicht dachte sie auch an ihren Mann Wolfgang, der sich mit achtzehn schon wie fünfzig fühlte, der Orgeln bauen wollte, dann aber doch den Linienbus lenkte, sich der Norm entzog und sich doch fügte, als er Vater war. Der sich später für die Umweltbewegung interessierte, während sie, Chemie-Facharbeiter und Hausfrau, an neue Klamotten für die Kinder denken musste. „Ich hab. Keine Zeit. Einfach. Keine Zeit.“ Dabei blieb es, als erst dieser Staat verschwand, dann ihr Arbeitsplatz, schließlich die Orientierung: „Das ist doch nicht mehr meine Zeit.“

In eine aktuelle Stimmung vereinfachender Entweder-oder-Polarisierung stellt der Dramatiker ein schwerer begreif- und aushaltbares Sowohl-als-auch: die DDR als öffentliches Gefängnis und als privater Freiraum, mit Grabesruhe hier und voller Leben dort. Sie konnte sehr gemütlich sein, aber höchst ungemütlich werden. Und ihr Untergang in eines Lebens Mitte dann: Aufstieg und Fall in einem. Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Und zugleich gibt es das eben doch.

Dem begegnet Freyer mit liebevoll kritischem Blick auf „dumme Jahre“. So heißt sein neues Stück, was wohl meint, dass man es oft erst hinterher besser weiß. Formal verbindet Freyer poetische Monologe und prägnante Dialoge, inhaltlich vereint er dabei Anklage und Verteidigung. Als verdichtete Chronik einer Familie, die unchronologisch hin- und herspringt - so funktioniert Erinnern - weitet sein Stück den Horizont, an dem die Gegenwart als Vergangenheit widerscheint.

Das ist ein Prinzip, das der aus dem ostthüringischen Gera stammende Dramatiker seit langem durchhält, ob seine Texte sich nun dezidiert ostdeutschen Motiven widmen oder nicht. Einer frühen Fassung von „dumme jahre“ stellte er Christa Wolfs erweitertes Faulkner-Zitat voran: „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“ Dementsprechend, ließe sich sagen, inszeniert Tilmann Köhler in Weimar, mit Phantasie, zärtlichem Humor und überschaubaren Mitteln, konkretes Theater ebenso wie dessen Verfremdung. Das fühlt sich nicht ein, das fühlt und denkt mit. Unaufgeregt lässt er Zeiten und Räume entstehen, entschwinden, ineinander übergehen.

Köhler und Freyer kennen sich seit mehr als einem Vierteljahrhundert. Sie trafen sich einst als Amateure in der Theaterfabrik Gera. Als Hausregisseur in Weimar brachte Köhler dann 2006 Freyers „Amoklauf mein Kinderspiel“ heraus. „Ich hätte mir nicht träumen lassen“, schrieb der Regisseur kürzlich im Jubiläumsbuch zum dreißigjährigen Bestehen der Theaterfabrik, „dass ich zwanzig Jahre später immer noch Texte von ihm aufführe.“ Sechs Mal war das bereits geschehen, auch am Berliner Gorki oder am Staatsschauspiel Dresden. Nummer sieben führte Köhler nun nach Weimar zurück.

Im Zentrum von „dumme jahre“ stellt Freyer eine Frau, Regine, auf eine Generationenlinie gestörter Mutter-Kind-Beziehungen voller Überforderung, Disziplinierungsversuche, psychischem Druck. Nicht nur hier zeigt ich eine Verwandtschaft zu Anne Rabes Roman „Die Möglichkeit von Glück“ (2023), auch in sozialistischen Nachwehen der NS-Zeit. Die Erzählung, in der Regine im Alter fragende Rückschau hält, indes Wolfgang dement wegdämmert, beginnt 1968, als der Prager Frühling niedergeschlagen wird und sie sich verlieben: das FDJ-Mädchen und der Junge aus der Christenlehre.

Für die Uraufführung in der Weimarer Spielstätte Redoute hat Bühnenbildner Karoly Risz einen ästhetischen Bruch arrangiert: Auf einer hohen Digitalanzeige rattern Jahreszahlen rauf und runter, das aseptisch moderne Weiß dieser Wand setzt sich wie ein Teppich als Spielboden fort, zwischen zwei Publikumstribünen auf der Bühne. Darauf kommen drei biedere Holztische zur Tafel zusammen, auf die man revoltierend steigen, unter die man resignierend kriechen kann. Ein rotes Tischtuch als variables Requisit erinnert an SED-Parteiversammlungen; Vater Staat sitzt mit am Familientisch.

Regine gibt‘s, eine Idee des Autors, dreimal: eine für den Anfang, eine fürs Ende (mit der Vision eines Neubeginns), eine mittendrin. Raika Nicolai spielt die jüngste keck, herausfordernd, voller Zuversicht, Anna Windmüller die älteste mit duldsamem Lächeln und einer Gelassenheit, die staunend annimmt, was kommen mag. Dazwischen tigert Nadja Robiné gestresst durchs Leben, ließe sich gerne fallen, fürchtet aber Kontrollverluste. Die drei schauen sich gegenseitig zu, ins Gesicht, über die Schultern. Und entwickeln eine selbstironische Spielweise, die sowohl Nähe als auch Distanz zur Figur zulässt.

Nicolai spielt zudem Katja und somit, diese Volte schlägt die Besetzung, die eigene Tochter, in der sich die Mutter anders fortsetzt. Fabian Hagen ist der biegsame Sohn und ein schlingernder Matthias, Philipp Otto ein zwischen Widerstand und Anpassung munter klemmender Wolfgang. Alle zusammen sorgen sie für einen erinnerungswürdigen Abend über Erinnerung, einen liebenswürdigen Abend über Liebe sowie schlicht und einfach für großartiges Theater.

Erschienen am 18.10.2024

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