Theater der Zeit

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Auftritt

Theater Lübeck: „Ganz schön viel Ostkram“

„Das beispielhafte Leben des Samuel W.“ in einer Lübecker Fassung von Lukas Rietzschel – Regie Helge Schmidt, Bühne und Kostüm Atelier Lanika (Lani Tran-Duc, Anika Marquardt), Musik Frieder Hepting

von Kristof Warda

Assoziationen: Schleswig-Holstein Theaterkritiken Lukas Rietzschel Theater Lübeck

Eine gesamtdeutsche Gegenwart: „Das beispielhafte Leben des Samuel W." am Theater Lübeck. Foto Sinje Hasheider
Eine gesamtdeutsche Gegenwart: „Das beispielhafte Leben des Samuel W." am Theater LübeckFoto: Sinje Hasheider

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Ist die Demokratie doch ein paar Nummern zu groß? Kurz vor der finalen Wahlkampf-Debatte wird Kandidat Bernd (Will Workman) von allen Seiten bearbeitet: „Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, wenn Samuel W. gewinnt – nur für sieben Jahre, dann ist der Spuk vorbei.“ Und was, wenn nicht?, fragt er scheinbar standhaft. Später gesteht er, dass er im ersten Wahlgang selbst Samuel gewählt hat. Samuel W., die Figur, um die sich alles dreht, tritt nicht auf. Und entzieht sich so ihrer Entzauberung.

Alles, was wir über Samuel W. wissen, erfahren wir aus zweiter Hand. Autor Lukas Rietzschel geht selbst wie ein Kandidat im Wahlkampf ans Werk: Er sammelt Stimmen. Stimmen von Weggefährt:innen, ehemaligen Klassenkamerad:innen, Nachbar:innen, Parteikolleg:innen, von den Menschen auf der Straße, um sich seiner Titelfigur zu nähern. Seine polyphone Collage malt mit tastendem, umkreisendem Pinselstrich das Portrait nicht nur des Kandidaten Samuel W., sondern zugleich der gesellschaftlichen Kräfte und Dynamiken, die ihn hervorbringen. Beim Schreiben seines Auftragswerkes für das Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau (UA 2024) hatte er ein konkretes politisches Ereignis im Blick: Die überregional beachtete Oberbürgermeisterwahl in Görlitz 2019. Samuel W. weist starke biografische Ähnlichkeit mit dem damaligen AfD-Kandidaten auf, der im ersten Wahlgang die meisten Stimmen gewann und gute Chancen hatte, erster AfD-Bürgermeister in Deutschland zu werden.

Die Lübecker Inszenierung fügt dem Stück eine weitere dokumentarische Dimension hinzu: Auf großen Monitoren rechts und links erscheinen Interviews mit den amtierenden Oberbürgermeistern von Lübeck und Wismar sowie mit ihren Vorgängern aus den 1990er Jahren.

Auf diese Weise dokumentarisch-gegenwärtig flankiert entsteht auf der Bühne eine „beispielhafte“ Ostbiografie. Es fallen Sätze wie: „Wenn Söhne ihre Väter am Boden sehen, dann macht das was mit ihnen.“ Es geht um Tagebau, Arbeitslosigkeit, ein neues System, und um Samuel W., der im SS-Ledermantel zur Schule kam, einen Schlägertrupp um sich scharte und den Spitznamen „Der Führer“ trug: Baseballschlägerjahre halt.

Im Programmheftinterview sagt Lukas Rietzschel, man müsse sich von dieser biografisch-psychologisierenden Betrachtungsweise lösen. Der Rechtsruck im Osten lasse sich nicht über die DDR erklären, die Probleme seien strukturell. Das bestätigt in scharfen Worten Lübecks Alt-Bürgermeister Michael Bouteiller: Das Problem sei nicht „der Osten“, sondern ein sozial und baulich heruntergewirtschaftetes Land.

Regisseur Helge Schmidt betont, es sei ihm wichtig, die Rolle der Lokalpolitik sichtbar zu machen. Hier fielen die Entscheidungen, die die Menschen unmittelbar beträfen. Auch hier findet Bouteiller klare Worte: „Lokalpolitik ist unterschätzt. Sie ist der Ort, an dem Kinder Demokratie lernen können.“ Die Inszenierung verfolgt dies leider nicht weiter. Dass die Wahlbeteiligung im Lokalen oft unter 50 Prozent liegt, bleibt unerwähnt, und dass die AfD diesen unterschätzten politischen Raum systematisch besetzt, erfahren wir nur aus dem Programmheft. Auf der Bühne reproduzieren FKK-Idylle und kohlebraune Altbauten über die Bildschirme flimmernd Ost-Klischees, statt sie zu brechen.

Samuel W.s aufhaltsame Politisierung wird letztlich doch von großen weltpolitischen Zäsuren und überregionalen Einflüssen bestimmt: Wende, 11. September, Afghanistan-Krieg, Finanzkrise, Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“. Der Widerspruch zwischen programmatischem Anspruch – Strukturen und Lokalpolitik in den Blick zu nehmen – und dem tatsächlichen Fokus auf biografische und globale Ereignisse bleibt ungelöst.

Der vorgeführte Versuch, Samuel W. durch seine Biografie verstehen zu wollen, kippt dabei streckenweise in eine „Führer-Obsession“, die weniger dekonstruiert als reproduziert wird – und vielleicht gerade darin etwas Gesamtdeutsches findet. Das erinnert an die vielen Dokumentationen, die alle Facetten der Person Hitler ausleuchten. Samuel W. wird guidoknoppisiert.

Stark ist die Inszenierung in ihren Bildern: Das multifunktionale Mauer-Modul, das den Bühnenraum immer neu strukturiert und vom Ensemble gedreht, verschoben und geklappt, jedoch niemals eingerissen wird, die groteske Komik der überdimensionierten Kostüme. Stark sind auch die musikalischen Einlagen, die das Ensemble mit großer Spielfreude performt. Der Abend zeigt Scharfsinn, wo er seine eigenen Erklärungsfallen entlarvt, wo er selbst feststellt: „Ganz schön viel Ostkram“. Doch statt wirklich neue Perspektiven auf die gesamtdeutsche Gegenwart zu eröffnen, führt er vor allem die Muster vor, die er kritisiert. Ein Theaterabend, der sich selbst durchschaut, ohne daraus Konsequenzen zu ziehen.

Erschienen am 16.9.2025

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