Leidenschaft für das Theatrale
Spektakuläres Theater und Music Hall
von Joachim Fiebach
Erschienen in: Welt Theater Geschichte – Eine Kulturgeschichte des Theatralen (05/2015)
Der Hauptgegenstand des frühen viktorianischen Theaters war das Spektakuläre, ob als Melodrama, Oper oder Ballet, Pantomime oder Shakespeare-Aufführung. Charakteristisch für die ersten Jahrzehnte waren gemischte Programmabende. 1825 bot das Theater Sadler’s Wells Folgendes an: „Die Vergnügungen werden aus einer romantischen Geschichte eines mysteriösen Horrors und breitem Grinsen [broad grin] bestehen, niemals zuvor aufgeführt, genannt die Enchanted Girdles, oder Winki the Witch and the Ladies of Samarkand. Eine höchst ausgefallene Burletta, die die Leute vom ununterbrochen Lachen total erschöpft nach Hause schicken wird, genannt The Lawyer, The Jew and the Yorkshireman.“26
Allerdings: Die Music Hall war der kulturhistorisch interessanteste und vielleicht bedeutendste Beitrag Englands zum europäischen Theater im 19. Jahrhundert. Mit ihrer völlig offenen, collageartigen Nummern-Dramaturgie und wirtschaftlichen Struktur operierte sie als wohl erstes großes, sehr einflussreiches Muster für Varieté und Revue, das bis in die 1920er Jahre massenwirksamste europäsch-nordamerikanische Unterhaltungstheater. Ursprünglich vor allem von Industriearbeitern und Handwerkern getragen, enwickelten sich die singing taverns zu Music-Hall-Theatern, die seit den 1860er Jahren in Aktienunternehmen, in großen Syndikaten organisiert, ein sozial gemischtes Massenpublikum in teilweise riesigen Häusern für bis zu 5000 Zuschauer bedienten. Während der bildungsbürgerliche Diskurs sie als triviale, „niedere“ Unterhaltungsmaschinen gegenüber dem „legitimen“ Theater verteufelte, traten dessen berühmte...