Theater der Zeit

5. Authentizität und Kollektivität

von Wolfgang Engler

Erschienen in: Authentizität! – Von Exzentrikern, Dealern und Spielverderbern (03/2017)

‚Man selber‘ sein, ‚man selber‘ werden, Selbsterforschung, Selbstformung, ohne die gesellschaftlichen Verhältnisse anzutasten, das war die Position des moralischen wie des ästhetischen Individualismus. Die Menschheitskatastrophen des 20. Jahrhunderts erschütterten diesen reibungsarmen, elitären Modus authentischen Lebens fundamental. Sie ließen die Erkenntnis reifen, dass man die Welt im Ganzen ändern muss, um sich als Subjekt konstituieren zu können. Ins Kreuzfeuer der Kritik geriet just jener Individualismus, der bis dato als Inbegriff der Selbstwerdung gegolten hatte: Er entzweie die Menschen, züchte ihren Egoismus und beraube sie der Kraft zu gemeinsamem Handeln. Individualismus als Essenz des falschen Ganzen, als Ideologie – diese epistemologische Wende orientierte „Authentizität“ auf „Kollektivität“, in seiner radikalen Variante auf „Kollektivismus“. Erst in Gemeinschaft komme man ganz zu sich, erst im Verein mit anderen rücke man den Verhältnissen leiblich zu Leibe. „Wenn Körper derart miteinander agieren, verwandeln sie sich, nämlich in Verbindung mit anderen. Allein verwandelt sich kein Mensch.“31 Die Gemeinschaft bildete das Scharnier, das Selbst- und Weltveränderung zusammenschloss. Um sich zu ändern, musste man die Welt verändern und umgekehrt, und dazu bedurfte es der Weggenossen.

Und Stützpunkte, wo diese sich begegnen, eine neue Art zu leben einstudieren konnten: Wohngemeinschaften, Kneipen, Clubs, Diskussionszirkel, Buch- und Kinderläden. Debattiert wurde reichlich, schließlich...

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