Theater der Zeit

Bericht

Wer bist du?

Spurensuche einer Tochter in „queer papa queer“

von Ute Kahmann

Erschienen in: double 41: Puppe* – Figurentheater und Geschlecht (04/2020)

Assoziationen: Performance Puppen-, Figuren- & Objekttheater

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Vor zehn Jahren rief mich mein Vater zu sich. Er würde nicht mehr lange leben und wolle mir noch etwas geben. Seine gesammelten Gläser interessierten mich nicht. Ich wollte mit ihm reden, wollte wissen, wie und warum er 1969 aus der DDR geflohen war, wie er all die Jahre gelebt hatte und ob er homosexuell sei. „Kann man nicht die Menschen lieben?“, antwortete er.

Zehn Jahre nach dem Tod meines Vaters begann eine aktive Auseinandersetzung mit dem Thema Homosexualität in der DDR. Die Geschichte meines Vaters sollte den Kern einer Performance bilden. Ererbtes Material, Briefe und Fotos, die meinen Vater als homosexuell outeten, ließen Fragen auftauchen. Wie gehen wir mit dem Schweigen, den Geheimnissen in unseren Familien um? Das Team führte Gespräche mit Menschen, die offen oder verdeckt homosexuell leben. Im Schwulen Museum Berlin lasen wir Berichte von Protagonist*innen der homosexuellen Emanzipationsbewegung der DDR, suchten den Kontakt zur queeren Community Ü70. Wie erfuhren, dass „queer“ ein schillernder Begriff ist, der weder in den Gender Studies noch in den queeren Bewegungen eindeutig definiert ist. Die Kategorie des Geschlechts als Teil der Identität wird grundsätzlich in Frage gestellt.

Wie „queer“ können die Puppen für unsere Performance aussehen, fragten wir uns. Wir bauten Flachfiguren aus Papier und Draht, kein Geschlechtsmerkmal sollte erkennbar sein. Aber was sagen wir mit neutralen Figuren aus? Die Vielfalt menschlicher Identitäten würde nicht widergespiegelt werden. Eine skizzenhafte Bauart sollte jedoch beibehalten werden. Wir nahmen Rollenzuschreibungen vor, um die Inhalte der Szenen zu transportieren. Eine Wiedererkennbarkeit der handelnden Personen war für die inhaltliche Struktur wichtig. Szenen, die in den 40er, 60er und 70er Jahren spielen, brauchen Puppen mit festgelegten Identitäten. Sind wir doch fixiert auf eine soziale Ordnung, die auf den gängigen Geschlechterrollen basiert? Oder ist die Verankerung im zeitlichen Kontext begründet? In der Gegenwart wird mein Vater durch einen Rahmen dargestellt. Diese abstrakte Form bietet den Betrachter*innen Freiräume und schützt zudem vor einem privaten Agieren auf der Bühne.

Nach einer Vorstellung kam eine junge Frau auf mich zu und fragte mich, wie ich es geschafft habe, mit meinem Thema auf die Bühne zu gehen. Es habe sie stark beeindruckt und ihr Mut gemacht, endlich mit ihrem Vater zu reden. Dem Publikum war meine Beziehung zum Vater oftmals wichtiger als die Szenen aus dem homosexuellen Leben in der DDR. Es gab Gespräche über das Anderssein in einer Diktatur und die Sehnsucht nach Freiheit, die wohl meinen Vater hat fliehen lassen. Vielleicht hatte er auch ein gewisses Schubladendenken bezüglich der Geschlechterrollen satt. Es ist seit langem an der Zeit, Klischees und das patriarchale Gesellschaftsmodell zu verlassen.

Meine Suche nach dem Wie und Warum der Flucht meines Vaters geht weiter. Gefunden habe ich kraftvolle Synergien im Produktionsteam, wertvolle Gespräche über eigene Rollenbilder und Diversität, inspirierende Menschen, berührende Momente und die Gewissheit, den richtigen Beruf auszuüben. – www.figurentheater-ute-kahmann.de

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