Theater der Zeit

Auftritt

München: Die Klage der Steine

Bayerisches Staatsschauspiel Residenztheater: „Gier unter Ulmen“ von Eugene O’Neill. Regie Evgeny Titov, Bühne Duri Bischoff

von Dora Dorsch

Erschienen in: Theater der Zeit: Thema Ukraine: Serhij Zhadan „Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“ (04/2022)

Assoziationen: Sprechtheater Theaterkritiken Bayern Residenztheater

Eine Geschichte über Traumatisierung und tiefes Misstrauen: Pia Händler als Abbi Putmann und Oliver Stokowski als Ephraim Cabot in „Gier unter Ulmen“ in der Regie von Evgeny Titov am Residenztheater München. Foto Birgit Hupfeld
Eine Geschichte über Traumatisierung und tiefes Misstrauen: Pia Händler als Abbi Putmann und Oliver Stokowski als Ephraim Cabot in „Gier unter Ulmen“ in der Regie von Evgeny Titov am Residenztheater München.Foto: Birgit Hupfeld

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Nur eines ist schon gewiss, wenn man eine Regiearbeit von Evgeny Titov besucht: Man wird auf einen verblüffend in sich geschlossenen ästhetischen Kosmos von höchster Eigenart treffen. Und unerbittlich in den Spiegel der eigenen Emotionen blicken müssen. Alles andere ist kaum vorhersehbar.

Dieses Mal entführt uns die Regie gemeinsam mit dem kongenialen Bühnen­bildner Duri Bischoff in eine anthrazitfarben getürmte Wüste aus unheimlichen Schieferplatten und dunklen Wackersteinen, bedrohlich karger Hintergrund für alles, was da kommen wird. Ein Jahr lag die fast fertig gearbeitete Inszenierung auf Corona-Eis und erwacht jetzt unter dem Brennglas des Russland-Ukrainekriegs zu geradezu hellseherischer Bildkraft, die den Zuschauer an einen dieser apokalyptisch zerstörten Orte katapultiert. Nach und nach gibt spärlich streifiges Licht seltsame Figuren frei, die sich – dank Eva Desseckers meisterlich misshandelter Stoffe und elaboriert einfachen Kostümen – seit staubigen Ewigkeiten aus Schatten in die Sichtbarkeit herausschälen.

„Gier unter Ulmen“, eines der hierzulande unbekannteren Stücke von Eugene O’Neill aus dem Jahr 1924, gehört in die Reihe seiner Familiendramen, die ihr Sujet mit der Wucht und Unausweichlichkeit antiker Tragödien abhandeln: Anstatt sich aufs Altenteil zurückzuziehen, setzt der verhärtete 75-jährige Farmer Cabot mit der Heirat seiner dritten, provozierend jungen Frau seinen drei erwachsenen Söhnen die zweite Stiefmutter vor die Nase. Die Familien-Ordnung kippt, niemand kennt mehr den ihm zugehörigen Platz, jeder ist in seine Einsamkeit zurückgeworfen. Anstelle der Zukunftspläne der Jungen tritt ein erbitterter Kampf um die Erbfolge. Animalisches Begehren, dunkle Familien-Geheimnisse, Lust auf Verbotenes sowie auf finale Selbstermächtigung vermengen sich zu einer explosiven Mischung. Titov nimmt, auf seine ganz eigene Weise, das Stück ohne Angst vor Pathos, Symbolen und groß komponierten Bildern im besten Sinn so tief beim Wort, wie man es zuletzt von Altmeistern wie Breth oder Grüber sah. Mit einem wahren Schauspielfest erlöst er uns von der jahrelang an deutschen Theatern zelebrierten Behauptung, dass Texte nur noch als digital verstärkte Flächen und Gefühle so fragwürdig seien, dass sie nur noch in ironische Parenthesen gesetzt werden können. Ein ebenso zielsicherer wie anrührend zarter Eben (Noah Saavedra) erscheint wie zum Abraham-Isaak-Opfer mit vertauschten Rollen, das tote Opferlamm zeichenhaft über der Schulter, kauft sich von den als Höhlenmenschen vegetierenden älteren Brüdern Simeon und Peter (Simon Zagermann und Niklas Mitteregger) frei, um sie ins utopische Goldland California zu entlassen, und stürzt sich ins Duell mit der leuchtenden Pia Händler als hassgeliebte Abbie. Diese okkupiert wie ein mythisches Vogelwesen mit manipulativ vitalem Zauber fast gleichzeitig alle Ebenen und Nischen der steinernen Spielflächen. Mit der komplizierten Vereinigung der Liebenden ­wider Willen schenkt uns der Abend einen Höhepunkt an malerischer Bildsprache: im ausgedehnt choreografierten Balztanz, der Abbies lebendig blühendweißes Fleisch unter lang rotflammendem Haar wollüstig über die düsteren Felsen schmelzen lässt, während Noah Saavedras feinziselierte Muskulatur die Kopulation mit ihr in vollkommener Caravaggio-hafter Schönheit ersehnt. Der tatsächlich sichtbare Auftritt des Geistes von Ebens verstorbener Mutter in Gestalt der Sopranistin Dora Garcidueñas – ein schauspielerischer wie gesanglicher Gänsehautmoment. Oliver Stokowski als trotzig verkrusteter Ephraim ­Cabot fasziniert durch kämpferisches Beharren im Falschen, mit wunderbar poetisch verstörenden Mitteln, unvergesslich das kantig-seltsame eigensinnige Tänzchen, das die jüngeren Generationen das Fürchten lehrt.

„Gier“ (unter Ulmen) mag an der Oberfläche als eine Materialismus-Kritik daherkommen, darunter aber liegt – und vor allem bei Titov – eine Geschichte über Traumatisierung und tiefes Misstrauen. Jede dieser grundverzweifelten Figuren bietet lieber sich selbst oder das, was sie besitzt, dem anderen als Handelsware an, bevor sie es riskiert, sich der Kraft ihrer Gefühle unmittelbar auszu­liefern. An dieser Sollbruchstelle scheitert zwangsläufig blutig die Erfüllung jeglicher emotionalen oder spirituellen Sehnsucht. Das harte Stoffliche ist die „sichere Bank“, die Immobilie wird weit vor das ungewiss flatternde, verwundbare Herz gestellt. //

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