Theater der Zeit

Protagonisten

Poleposition im Weltzerstörungsrennen

Michael von zur Mühlen inszeniert an der Oper Halle Brechts und Weills „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ als Requiem auf den Kapitalismus

von Jakob Hayner

Erschienen in: Theater der Zeit: Playtime! – Der Theatermacher Herbert Fritsch (05/2017)

Assoziationen: Sachsen-Anhalt Akteure Musiktheater Oper Halle

Oper muss die Schmerzpunkte der gegenwärtigen Gesellschaft erfahrbar machen – Szene aus Michael von zur Mühlens Inszenierung von "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" an der Oper Halle. Foto Falk Wenzel
Oper muss die Schmerzpunkte der gegenwärtigen Gesellschaft erfahrbar machen – Szene aus Michael von zur Mühlens Inszenierung von "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" an der Oper Halle. Foto: Falk Wenzel

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Nach der Aufführung sitzt man gemeinsam im neu gestalteten Café der Oper Halle, das interessierte Publikum und der verantwortliche Regisseur Michael von zur Mühlen, die Dramaturgin Jeanne Bindernagel, der Brecht-Forscher Günther Heeg und der Weill-Kenner Clemens Birnbaum. „Agitation & Revolte“ werden in Halle die Diskussionsveranstaltungen nach den Vorstellungen genannt, auf den Tischen stehen Rosen und Tomaten (Letztere sorgfältig in Servietten verpackt) zur Verstärkung der Pro- und Contra-Argumente bereit, im Nebenraum hängt ein Druck von Jörg Immendorffs Gemälde „Wo stehst du mit deiner Kunst, Kollege?“. Gegen den aus dem Publikum erhobenen Vorwurf, die Inszenierung von Bertolt Brechts und Kurt Weills Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ sei wenig ansehnlich und zugänglich, verteidigt sich von zur Mühlen. Ruhig, aber bestimmt erklärt er, dass seine Regieentscheidungen inhaltlich motiviert und fundiert seien. So kann er Verständnis, kein Einverständnis, bei den zunächst ablehnend bis kritisch gesinnten Teilnehmern der Diskussion erringen.

Von zur Mühlen verzichtet darauf, Brechts und Weills Oper zu illustrieren. Es gibt keine Wüstenstadt, keinen Western, keine Cowboys. Stattdessen ein Requiem auf den Kapitalismus. Gemeinsam mit den Zuschauern betritt der Chor den Saal, dunkle Kleidung, je eine Urne in der Hand. Die Sänger sitzen in den ersten Reihen, der Bühne zugewandt, wo auf einem Podest das Orchester platziert ist – die Maschinerie wird ausgestellt und nicht im Orchestergraben versteckt, ein Blick ins moderne Weltgetriebe. Das Podest ist umgeben von einer weißen antikisierenden Kulisse, ein Bildungstempel, der sich beim näheren Hinschauen als Aufbau aus Schaumstoff erweist, der Montageschaum quillt aus den Fugen, vorn ein leicht erhöhtes Pult vor Marmorfassade, das entfernt an das Rednerpult der UN-Generalversammlung erinnert. „Erheben Sie sich bitte.“ Kurzes Zögern im Publikum, alsbald folgt ein großer Teil der Aufforderung. Vorgetragen wird Brechts Gedicht „An die Nachgeborenen“, eine Mahnung an die finsteren Zeiten. Es geht auch um Trauerarbeit, einen illusionslosen Blick auf die Gegenwart.

Der Protagonist Jim Mahoney erzählt von Mahagonny, diesem sagenumwobenen und mythenverzerrten Ort. Spaß ist das einzige Gesetz in Mahagonny – passend zu den konsumorientierten Imperativen des Spätkapitalismus, wie sie beispielsweise auch der Philosoph Slavoj Žižek analysiert. „Enjoy!“ als Maxime, wie es auf dem Produkt eines großen Erfrischungsgetränkeherstellers heißt. Mahagonny ist befreit von der Arbeit, zumindest temporär. Die Verbote und Gebote verlieren ihre Gültig- und Notwendigkeit. „Vor allem aber achtet scharf, dass man hier alles dürfen darf.“ Die einzige Grenze, die es jetzt noch gibt, ist das Geld. Mahoney muss bald erkennen, dass damit sein Untergang unabwendbar ist. Er macht sich des größten vorstellbaren Verbrechens schuldig: kein Geld zu besitzen. Das besiegelt seinen Tod. In Mahagonny verschränken sich Utopie und Dystopie. Nichts gilt als der freie Tausch, jedoch nur unter ungleichen Bedingungen, sodass er zu weiterer Ungleichheit führt. Freiheit – bei Strafe des Untergangs des Einzelnen. Das Kapitalverhältnis bietet die Möglichkeit von Emanzipation und verhindert sie zugleich. Das ist eine Kapitalismuskritik auf der Höhe ihres Gegenstandes. Dementsprechend sorgte „Mahagonny“ schon Ende der zwanziger Jahre für einen Theaterskandal und zog den Hass der Reaktionäre und Nationalsozialisten auf sich.

 

Dass sich der Gegenstand keineswegs erledigt hat, zeigt Michael von zur Mühlen. Als sich die Sänger ihre Habseligkeiten mit Klebeband um den Leib schnüren, Häuser, Autos, Yachten, Flugzeuge, Kinder, alles im Spielzeugformat, und sich mit Gewehren, Pistolen und Äxten gegenseitig attackieren, um noch ein wenig mehr zu akkumulieren, wird der Zusammenhang zwischen kapitalistischer Konkurrenz und Kampf, Raub und Krieg deutlich. Niemand kann gewinnen, denn auch, wenn es den Akteuren so nicht im Bewusstsein erscheint, ist das individuelle Handeln gesamtgesellschaftlich bestimmt. Es gibt keine Flucht nach vorn aus der Konkurrenz. Doch jeder erhofft sich noch einen Vorteil, die Poleposition im Weltzerstörungsrennen. „Alle gegen alle“ ist der Sound von Weill, wie in den achtziger Jahren von Slime und DAF. Das sieht heute nicht anders aus, wo die großen Volkswirtschaften für sich beanspruchen, zuerst zu kommen. „‚Mahagonny‘ ist überall allzu sichtbar. Mit dessen absurden Forderungen ‚Für die ungerechte Verteilung der irdischen Güter!‘, ‚Für die Freiheit der reichen Leute!‘ sind heute reale demokratische Wahlen zu gewinnen“, schreibt die Dramaturgin Jeanne Bindernagel. Als besonders gelungene Idee der Regie erweist sich, den Chor an zwei Stellen gegen das Publikum zu wenden. Zuerst bei dem Hurrikan und dann in dem furiosen Finale. Die Musik erhebt sich, und gleichzeitig setzt die größte Ernüchterung ein. „Wir können euch und uns und niemandem helfen.“ Die Vergötterung der scheinbar natürlichen Ordnung der Unsolidarität übersteigt die Natur noch bei weitem und offenbart die Falschheit. Das so entsprungene Urteil über die Gesellschaft lässt an Deutlichkeit nichts mangeln: „Was ist der Taifun an Schrecken gegen den Menschen, wenn er seinen Spaß will?“ //

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