Das Gestische, ein Zentralbegriff Bertolt Brechts, ist heute für viele eine Art Gespenst, das auf dem Müll vergangener Brecht-Dispute dahinwest. Vor dreißig Jahren sah das ganz anders aus. Was seitdem mit dem Begriff geschah, ob zu Recht oder zu Unrecht, dem geht der Gedankenaustausch zwischen Hans Martin Ritter, der 1986 in Köln das Buch „Das gestische Prinzip bei Bertolt Brecht“ veröffentlichte, und Thomas Wieck, der damals an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ lehrte, nach.
Hans Martin Ritter: Das gestische Prinzip beschäftigt mich seit Mitte der siebziger Jahre, und zwar zunächst im Rahmen der neuen Lehrstückdiskussion (erste „graue“ Publikation 1976). Schlüsselstelle war für mich Brechts „Lied des Stückeschreibers“ mit seinen Beobachtungen auf den „Menschenmärkten“, wo „der Mensch gehandelt wird“. Auch Brechts Modell der Straßenszene stand Pate, verstanden als Sammlung und Diskussion beobachteter Ausschnitte von Vorgängen, bezogen auf einen „Fall“, oder von Momentaufnahmen einzelner Gesten und Haltungen. Beobachtung macht das gestische Moment als Ausschnitt im Handeln sichtbar und erfahrbar und verbindet sich für mich mit dem Gestalten szenischer Vorgänge in den Schritten: sozialer Gestus – Gestus der szenischen Handlung – Gestus der „öffentlichen Äußerung“. Das Buch „Das gestische Prinzip bei Bertolt Brecht“ diente letztlich der Aufschlüsselung des Brecht’schen Theaterverständnisses überhaupt vom...