Protagonisten
Das gestische Prinzip
Fokus Brecht: Ein „verspäteter“ west-östlicher Gedankenaustausch zwischen Hans Martin Ritter und Thomas Wieck
von Thomas Wieck und Hans Martin Ritter
Erschienen in: Theater der Zeit: Der Auftrag – Lars-Ole Walburg und Sewan Latchinian (10/2015)
Assoziationen: Regie Dramaturgie Theatergeschichte Akteure
Das Gestische, ein Zentralbegriff Bertolt Brechts, ist heute für viele eine Art Gespenst, das auf dem Müll vergangener Brecht-Dispute dahinwest. Vor dreißig Jahren sah das ganz anders aus. Was seitdem mit dem Begriff geschah, ob zu Recht oder zu Unrecht, dem geht der Gedankenaustausch zwischen Hans Martin Ritter, der 1986 in Köln das Buch „Das gestische Prinzip bei Bertolt Brecht“ veröffentlichte, und Thomas Wieck, der damals an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ lehrte, nach.
Hans Martin Ritter: Das gestische Prinzip beschäftigt mich seit Mitte der siebziger Jahre, und zwar zunächst im Rahmen der neuen Lehrstückdiskussion (erste „graue“ Publikation 1976). Schlüsselstelle war für mich Brechts „Lied des Stückeschreibers“ mit seinen Beobachtungen auf den „Menschenmärkten“, wo „der Mensch gehandelt wird“. Auch Brechts Modell der Straßenszene stand Pate, verstanden als Sammlung und Diskussion beobachteter Ausschnitte von Vorgängen, bezogen auf einen „Fall“, oder von Momentaufnahmen einzelner Gesten und Haltungen. Beobachtung macht das gestische Moment als Ausschnitt im Handeln sichtbar und erfahrbar und verbindet sich für mich mit dem Gestalten szenischer Vorgänge in den Schritten: sozialer Gestus – Gestus der szenischen Handlung – Gestus der „öffentlichen Äußerung“. Das Buch „Das gestische Prinzip bei Bertolt Brecht“ diente letztlich der Aufschlüsselung des Brecht’schen Theaterverständnisses überhaupt vom Begriff des Gestus her.
Thomas Wieck: Ihre Schrift hätte, wäre sie damals wahrgenommen worden, den späteren verkrampften Kontroversen um ostdeutsches und westdeutsches Theater, um performatives oder authentisches, psychologisches oder gar kein Spiel den Boden entziehen können. Aber der Begriff Gestus war in seiner sozialistisch-realistischen Überformung als „gesellschaftlicher Grundgestus“ oder gar als naturalistisch infizierter „sozialer Gestus“ ideologisch kontaminiert. Er wurde entsorgt und fehlt heute, um neben den sich zyklisch einstellenden Theaterwissenschaftsjargons ein durch langen theaterpraktischen Gebrauch bewährtes Denkwerkzeug im theatertheoretischen und schauspielpädagogischen Handeln zur Hand zu haben.
Ritter: Das gestische Prinzip hat ja in der Schauspielausbildung eine wichtige Rolle gespielt. Die Ausbildungskonzeption in der DDR – siehe das Handbuch „Schauspielen“ von Gerhard Ebert und Rudolf Penka aus dem Jahr 1981 – kann als eine quasi „verordnete“ gebündelte Systematik der Ansätze Brechts und Stanislawskis gesehen werden: Das gestische Moment – allerdings eng bezogen auf das innerszenische Agieren der Figuren – galt als Kern schauspielerischen Handelns. Dagegen standen individualistische Konzepte westlicher Schulen, für die etwa das von Lee Strasberg das aktuellste war. Das Jahr 1990 brachte die Begegnung dieser Ansätze bzw. deren Konfrontation (sichtbar zum Beispiel auf den Treffen der Schauspielschulen) – vereinfacht: die Opposition von persönlichem Ausdruck und Handwerk. Schauspielausbildung heute ist natürlich nicht durch Brecht/Stanislawski-Exegesen theoretisch umfassend zu begründen, sondern durch einen komplexen Diskurs der Schauspieltheorien.
Wieck: Kleine Anmerkung: Rudolf Penka hat zusammen mit Heinz Hellmich ausgehend von Stanislawski und beeindruckt von Brechts Theaterarbeit, internationale Anregungen vieler Art aufnehmend, in den sechziger Jahren sein schauspielerisches Grundlagenseminar erarbeitet, das damals wie heute seinesgleichen sucht. Die Eckpunkte dieses Seminars sind seit 1968 unter dem Stichwort „Improvisation als Lehrmethode“ bekannt – siehe Theater der Zeit 14/1968 – und ein paar Jahre später von Heinz Hellmich im Entwurf eines ministeriellen Lehrplans der Fachrichtung Schauspiel kanonisiert worden. In „Schauspielen“ wird mehr ideologisiert und verunklärt – nicht von Penka –, und von Brecht ist mehr plakativ denn inhaltlich die Rede. Das zur historischen Genauigkeit. Zurück in die Gegenwart: Was bringt ein erweitertes Gestusverständnis in der Schauspielausbildung heute?
Ritter: Erstens: Der Schauspieler erfährt die Beobachtung von Vorgängen in der sozialen Welt in einem körperlichen Akt, „einem Akt der Nachahmung, welcher zugleich ein Denkprozess ist“, so Brecht. Die Herausstellung der Einzelmomente, gerade auch ihrer Widersprüche, die Aktion in Abschnitten und ihre Verknüpfung, gibt Vorgängen „einen fixierbaren Anfang und ein fixierbares Ende“, eine „rahmenhafte Geschlossenheit“, wie es bei Walter Benjamin heißt, gerahmt durch das Bewusstsein. Der Ansatz dazu, der sich auch bei Michael Tschechow und Eugenio Barba findet, wird als spezifischer Körperimpuls erfahren, der die Aktion, die Äußerung ausformt.
Zweitens: Die Selbstbeobachtung der Akteure, die der eigenen Aktionen und die wechselseitige Beobachtung (schöne Beispiele dafür sind Jürgen Goschs letzte Tschechow-Inszenierungen), schärfen das Engagement für die Sache und die Entscheidung, es gerade auf diese Weise zu tun. Darin liegt zugleich eine notwendige innere Vorwegnahme des Zuschauerblicks.
Drittens: Das Gespräch mit dem Zuschauer – durch das Spiel selbst oder im offenen Dialog, im Heraustreten aus der Figur – ist das eigentliche Ziel des schauspielerischen Denkprozesses. Es muss dem Zuschauer Raum geben, Vorgänge zu erfassen. Brechts Verfahren, Aktionen zu „rahmen“ durch Zäsuren vor der Handlung, durch den verweisenden Blick oder im Nachhorchen, das abwartet, bis die Aktion oder Äußerung zum inneren Vorgang des Zuschauers wird, haben heute vielleicht weniger theaterästhetische als (in jedem Fall) schauspielpädagogische Bedeutung.
Wieck: Erich Engel sagte das sehr schön: „Das Ich produziert ein anderes Ich. Dazwischen entsteht ein Spannungsbogen. Dieser sei für den Schauspieler ein Lusterlebnis. Wenn ich den gewonnenen Überblick geistig kläre, so habe ich aus einem rein sensuellen Vorgang einen Phantasieprozess gemacht. Phantasie ist die Durchdringung von Sinnlichkeit und Geist. Der erste Vorgang ist eine sinnliche Identifizierung. Der zweite, der entstehen kann, ist eine bewusste geistige Erfassung und Durchdringung dieses aus dem ersten Vorgang entstandenen Produkts. Es entsteht dann ein Phantasiebild, dem ich mich gegenüberstelle. Ich kann es betrachten, kann damit umgehen, kann daran Korrekturen vornehmen.“
Brecht kommt diesem Ideal des Theaterspiels auf eine sozial viel konkretere Weise sehr nahe, indem er die in der gesellschaftlichen Praxis übliche Erscheinung der „Rollendistanz“ ästhetisch nutzt. „Rollendistanz heißen die mehr oder weniger intuitiv gewussten Formen der effektiv ausgedrückten, zugespitzten Trennung zwischen dem Individuum und seiner mutmaßlichen Rolle, die im Sinne der Botschaft ‚Das ist nicht mein wirkliches Ich‘ kommentiert werden“, schrieb Erving Goffman. Ein heute leicht antiquiertes Verhalten aus Zeiten einer höheren Schamschwelle verdeutlicht das Prinzip.
„Ein Mann, der sich in einem Pornoladen eine Zeitschrift ansieht, kann darauf bedacht sein, sie in schnellem Tempo durchzublättern und dabei jeder Seite gleichviel Aufmerksamkeit zu zollen, so als suche er einen besonderen Artikel oder wünsche sich darüber zu informieren, wie eine solche Zeitschrift allgemein aussieht“, so Goffmans Beispiel. Der Mann will Pornografie kaufen und prüft die jeweilige Zeitschrift, ob sie ihm liefert, was er braucht. Das muss er aber verbergen, würde er sich doch sonst als abhängiger Konsument billigster Befriedigungsmittel bloßstellen. Er wird die Rolle des Käufers zugunsten der Rolle des Verächters verdrängen. Dafür stehen ihm verschiedene Verhaltensweisen offen, er kann die Haltung des moralisch entsetzten Kontrolleurs, des staunend-verwunderten pornografischen Analphabeten oder des überlegen-erhabenen Fachmanns behaupten. Mit dieser Aufgabe völlig ausgelastet, misslingt ihm aber sein eigentliches Anliegen, das Auffinden eines erregenden Fotos. Er legt das Heft weg und nimmt nun schnell und wie nebensächlich nahezu gedankenverloren irgendein Heft und kauft es unbesehen.
Jedes menschliche Tun, jedes Geschehnis nach dem „Gestischen“ hin aufgelöst, legt bloß, was der Handelnde von sich zeigen und was er von sich verbergen will, wie er seine Handlung verstanden wissen will und wie er sie selbst versteht und was all diese Machinationen von ihm selbst, seinem verborgenen Ich „verraten“. Diese „vage“ Summe von Gestaltungsmöglichkeiten öffnet ein reiches Spielfeld für den Schauspieler. Die widersprüchlichen Verhaltensweisen der auf Rollendistanz bedachten Individuen im Alltagshandeln sind die Leitbilder, und ihre künstlerische Montage ist die Technik der neuen Schauspielkunst. Brecht rüstet den Schauspieler mit einem Verfahren aus, das es erlaubt, den Zuschauern ein mehrseitiges Verhältnis vorzustellen, in dem gezeigt wird, wie die produktiven Möglichkeiten des Menschen durch die Notwendigkeiten der sozialen Rollenannahme verhindert werden. In der Art und Weise dieses Zeigens ist ein Verhalten von den Zuschauern zu entdecken, das von ihnen als praktischer Wink verstanden werden soll, sich ihrer eigenen Produktivität zu besinnen und sie gesellschaftlich verantwortlich zu gebrauchen.
Ritter: Die in vieler Hinsicht unauflösliche Widersprüchlichkeit der Welt zeigt sich im aktuellen Theater nicht zuletzt in ästhetischen Brüchen. Aspekte des Dekonstruktiven oder die „Auflösung der Werke in performative Prozesse“, wie es bei Barbara Gronau heißt, sind charakteristische Phänomene. In Brechts Modell der Straßenszene kann man den Schwenk von der Narration zum Diskurstheater bereits erkennen. Hier kündigt sich das Fragmentarische, Ausschnitthafte, der Wechsel ästhetischer wie kommunikativer Ebenen: die Diskontinuität der Abläufe schon an. In der Tat ist Brechts Theaterentwurf – vor allem sein Lehrstückentwurf, weniger seine Theaterpraxis – eine Quelle auch postdramatischer Strömungen.
Als offener Begriff lässt sich der Gestusbegriff letztlich auf alle Prozesse und Erscheinungen heutigen Theaters anwenden, weil er sowohl die ästhetische als auch die gesellschaftliche Komponente enthält und beide Aspekte aufeinander bezieht: das heißt, auf die innerszenischen Momente des Handelns von Figuren, gesplitteten Figuren oder Figurenresten wie auf die Brüche zwischen Figur und Schauspieler, auf sein personales Handeln, auch auf die stufenweise Unterscheidung von not-acting bis zum komplexen acting, wie es bei Michael Kirby heißt, und das Nebeneinander von professionellem und nichtprofessionellem Spiel wie beispielsweise bei Rimini Protokoll oder dem Schweizer Theater Hora. Des Weiteren auf chorisches Agieren – individuell gesplittet, dirigiert oder als kompakte Kollektivfigur wie bei Peter Steins „Atriden-Tetralogie“ an der Berliner Schaubühne, bei Einar Schleef oder aktuell in Michael Thalheimers Inszenierung von Elfriede Jelineks „Die Schutzbefohlenen“. Auf geschlossene produktorientierte und offene performative Bühnenprozesse und den Diskurs auf der Bühne sowie den zwischen Bühne/Aktionsraum und Publikum wie bei Jelineks „Die Kontrakte des Kaufmanns“ in der Regie von Nicolas Stemann oder bei She She Pop. Auf das mediale Zusammenspiel von Musik, Tanz, dem szenischen Raum, auf Videoeinspielungen oder das neue „Gesamtkunstwerk“ der Performance wie bei David Martons „Die Heimkehr des Odysseus“ an der Schaubühne, Armin Petras’ Version von Schleefs „Gertrud“ am Maxim Gorki Theater, Andreas Kriegenburgs „Der Menschenfeind“ am Deutschen Theater Berlin oder Falk Richters „Never forever“ an der Schaubühne.
In all diesen Varianten aktuellen Theaters spielen gestische Momente aus meiner Sicht eine produktive Rolle, sie lassen sich ohne den Begriff des Gestus nur rudimentär beschreiben. Auch der Widerspruch zwischen Textualität und Performativität im Theater – siehe Erika Fischer-Lichte – ist scheinhaft, denn Text erscheint höchst selten als reiner Text, sondern performiert, das heißt gestisch, in Handlung verwandelt, und sei sie noch so artifiziell.
Wieck: „Die Akteure des epischen Theater sind nicht daran interessiert, über sich selbst Auskünfte zu erteilen, sie erteilen Auskünfte über die Umwelt und ermöglichen ihre Ansicht“, schrieb Brecht. Mir scheint aber, dass dieser Kern der gestischen Spielweise heute kaum praktische Gegenliebe auf dem Theater erfährt, denn gestisches Spiel bleibt immer an Figurenspiel gebunden. Wenn Bernd Stegemanns Diktum, die Haltung des Schauspielers zu seiner Darstellung sei nicht mehr selbst Thema, stimmt, dann nimmt das Theater heute etwas Substanzielles zurück.
Ritter: Ihrem Satz „Gestisches Spiel bleibt immer an Figurenspiel gebunden“ möchte ich widersprechen. Auch der Ausstieg aus der Figur, selbst figurenloses Handeln folgt einem Gestus. Jede Aktion in einem ästhetischen Raum, auch jede Selbstdarstellung, jedes So-tun-als-ob – in diesem Fall: als wäre ich nichts als „ich“ –, ist ästhetisch aufgeladen und erscheint dem Zuschauer als „Figur“ oder figuratives Handeln, dem kann der Akteur auf der Bühne nicht entrinnen. Und die „Ästhetik des Performativen“ von Fischer- Lichte, die das Figurenspiel im herkömmlichen Sinn eher von der Seite ansieht, entgeht dieser Scheinhaftigkeit des Ästhetischen ebenso wenig. Jede vorgeführte Handlung, auch wenn sie scheinbar auf nichts als sich selbst verweist, wird vom Zuschauenden „metaphorisch“, als Bild für etwas erfahren und bezogen auf Erscheinungen, die er kennt. Das gilt gerade für die Momente, in denen der Schauspieler vorgibt, nichts zu sein als er selbst, und seine Aktionen offensichtlich nicht mehr sind als das, was sie konkret sind. Er kann die Tatsache, dass er selbst Metapher, Zeichenproduzent und Zeichen in einem ist, nicht aufheben, wegwischen. Gerade weil wir als Spieler wie Zuschauer nicht nur spielen und zuschauen, sondern auch „leben“, suchen wir nach Deutungen, selbst da, wo wir vor Rätseln stehen, und üben uns im Theater – mit Novalis – in der „tätigen Reflexion der Menschen über sich selbst“. Dabei kann auch Missverstehen durchaus als ein freiwillig-unfreiwillig kreatives „Verstehen“ verstanden werden.
Wieck: So verabschieden Sie aber Brechts Hauptaspekt des „gestischen Prinzips“, die Haltungsübernahme, denn ich als Zuschauer soll mich doch höchstens delektieren am Auftritt der Akteure und an den Kunstgriffen der Regisseure oder verwundern ob des mir zugemuteten Rätselhaften, des Abgründigen, und nicht mehr das im Theater erfahren, was Benno Besson, ich räume gern ein: vor einem halben Jahrhundert über sein Theater des Gestischen in der Nachfolge Brechts, nicht in der dogmatischen Auslegung, gesagt hat: „Bei der Spielweise, die ich persönlich versucht habe, am Deutschen Theater zu entwickeln, könnte man sagen, dass der Zuschauer sich in den Schauspieler einfühlt als in einen aus dem Privatisieren ausbrechenden Menschen. Der Schauspieler macht dem Zuschauer Mut und Lust, sich als Gesellschaftswesen zu fühlen und zu betätigen. Es ist dazu notwendig, auch die zuschauende und kritische Haltung des Zuschauers aufrechtzuerhalten.“ Das ist für mich aktuell.
Ritter: Das gestische Prinzip beschäftigt sich mit Widersprüchen, legt sie auseinander oder „verknotet“ sie. Unsere ästhetische Praxis ist nicht mehr Brechts Praxis, sein gesellschaftliches Anliegen nicht mehr das unsere. Aber – da halte ich es mit Hans-Thies Lehmann: „die Brechtschen Fragen nach Präsenz und Bewusstheit des Vorgangs der Darstellung im Dargestellten“, das heißt eben auch die Fragen nach dem Wechselbezug ästhetischer und gesellschaftlicher Erscheinungen, sind uns weiter aufgegeben und bleiben aktuell. Diese Fragen lassen sich unter anderem vom Begriff des Gestus her stellen. Verzichtbar scheint der Begriff mir deshalb keinesfalls – dass sich sein Inhalt und sein Gebrauchswert im Lauf der Zeiten wandeln, widerspricht dem nicht. //