Auftritt
Staatstheater Augsburg: Die Vergartenzwergung des Bösen
„Gesänge vom Überleben“ von Tine Rahel Völcker (UA) – Regie Nicole Schneiderbauer, Bühne und Kostüme Miriam Busch, Choreografie Gabriella Gilardi, Musik Fabian Löbhard, Video Stefanie Sixt
von Sabine Leucht
Assoziationen: Theaterkritiken Bayern Dossier: Uraufführungen Tine Rahel Völcker Staatstheater Augsburg

Am Ende ist man zwar niedergeschmettert, aber nicht ohne Hoffnung. Schließlich hat sich ja gerade ein mehrheitlich bürgerliches, sehr weißes und mindestens mittelaltes Publikum aus freien Stücken dieser vielstimmigen Erzählung von Zwangsarbeit in Deutschland ausgesetzt. Die zweite Vorstellung der „Gesänge vom Überleben“ fiel auf einen milden Sonntagnachmittag – und war ausverkauft.
Zum 80. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager durch die Alliierten ist die Schriftstellerin Tine Rahel Völcker im Auftrag des Augsburger Staatstheaters tief in die Archive der NS-Verbrechen hinabgestiegen, hat Zeugenberichte und Publikationen von Opfern gewälzt und Gespräche mit Angehörigen und Wissenschaftlern geführt. Insbesondere die Verstrickungen des Kapitals und der ortsansässigen Industrie in die menschenverachtenden Praktiken der Nazis haben sie interessiert. Und da gibt das nur 50 Kilometer von Dachau entfernte Augsburg so einiges her. Allein die Messerschmitt-Werke beschäftigten in den KZ-Außenlagern Augsburg-Pfersee und Haunstetten Tausende von Zwangsarbeiter:innen, die unter den unwürdigsten Bedingungen für die deutsche Kriegswirtschaft schuften und vielfach auch sterben mussten. Dass über viele dieser Gräuel erst mal Gras wachsen durfte, zeigt gleich die erste Szene des Abends: Mehrere Bahnen Kunstrasen liegen auf der Brechtbühne im Gaswerk und ein bösartig lachender Gartenzwerg lässt den ungarnstämmigen Juristen abblitzen, der 1957 das Lager sucht, in dem er im Krieg ausgebeutet worden war. Ein Lager? Der Zwerg weiß, wie man Verdrängung in eine Tautologie ummünzt: „Wo koa Loager nimmer woar do kinns o koins gebn homm“, antwortet er in breitestem „Bäbisch“, wie Völcker den von ihr vorgeschlagenen elastischen Kunstdialekt nennt. Je nach Schauspieler:in klingt mal mehr Bayerisch, mal mehr Schwäbisch, aber immer seppelig stumpf, was die rot bemützten Vertreter der Politik und des Gesetzes hier von sich geben. Egal, ob sie einem Lehrer den Besuch im Stadtarchiv verweigern, weil ein Ausländer wie er ja nicht „objektiv“ vorgehen würde, oder ein zeitgenössischer Paragraphenreiter einem ehemaligen Zwangsarbeiter seine „angeborene Asozialität“ bescheinigen.
Der deutsche Staat gerinnt in Nicole Schneiderbauers Inszenierung zeiten- und organ-übergreifend zur platten Karikatur. Auf der Seite der Opfer wird es anders undifferenziert, hier neigen Text wie Regie zur fast religiösen Überhöhung. Es gibt einen Chor der Neugeborenen, aus denen sich einzelne Stimmen herausschälen, von denen sich einige wenige zu Figuren kristallisieren. Eine schwangere Polin will sich nicht wie Vieh behandeln lassen, der junge Ukrainer Nikolaj Salivadnij wird direkt aus dem Unterricht in der Berufsschüler verschleppt und die Ungarische Jüdin Eva Dános überlebt die Zwangsarbeit nur durch den Optimismus ihrer Freundinnen, die sie beide elendig krepieren sieht. Am konkretesten wird die Geschichte vom Sinto Jakob Bamberger, der 1939 gerade zum zweiten Mal deutscher Vizemeister im Boxen geworden ist und dennoch im KZ landet. Seinen Toten, seiner ermordeten Zukunft, seinen Leiden aufgrund von Mangelernährung und medizinischen Experimenten, seinem Kampf gegen die institutionelle Verdrängung folgt der Abend am längsten. Und Mehdi Salims authentisch muskelbepackter Körper macht diesen Kampf sehr konkret, während die nur angerissenen Schicksale der anderen fragmentarisch bleiben.
Auch die erschütterndsten Zahlen und Fakten ermüden auf Dauer: „Wir befinden uns im ungarischen Hatvan“, heißt es einmal, dann wieder sind wir in Auschwitz, in Frankenthal in der Pfalz, in Ravensbrück, Burgau und Gersthofen … Bis die Namen von Orten und Menschen gleichgültig werden. Dass es sich bei ihnen nicht um Einzelfälle handelt, sondern um System-Bausteine einer unerhörten Geschichte der Versklavung und Entmenschlichung, hätte sich auch subtiler vermitteln lassen.
Nicole Schneiderbauer lässt ihr flexibles fünfköpfiges Ensemble aus Umzugskartons Gefängnis- und Archiv-Wände aufbauen. In Projektionen auf der Bühnenrückwand schneit es im deutschen Wald und Fotos von Lagergebäuden gerinnen zu abstrakten grafischen Formen. Einmal fallen klackernd Tassen an Seilen von der Decke und Engelsflügel und salbungsvolle Betonungen arbeiten an einer poetischen Überhöhung, die sich schwer in Richtung Kitsch neigt. Auch der Text, von seiner Autorin ausgewiesen als „Doku-Fiction-Poem“ hat da schon deutlich Schlagseite und bringt Worte wie „Nebelkind“ und „Wolkenmensch“ als Abwehrzauber gegen Unworte wie „Arbeitserziehungslager“ und innere Bilder von erfrorenen Füßen in Holzpantinen in Stellung.
Aber das hilft leider ebenso wenig gegen die Bestie Mensch wie ihre Vergartenzwergung, die eher noch ungut an die langjährige Verharmlosung von Donald Trump erinnert. Und der Zukunft die helfende Hand reichen will der Abend ja schon irgendwie. Deshalb betont er die Kontinuitäten, wo sie auftauchen. Ob in den Worten des Ukrainers, der für alle nur „der Russe“ ist – „Sie haben Angst vor uns. Sie kennen uns gar nicht“ – oder in der deutlichen Warnung des Chores: „Sobald sich das Regime ändert, ändert ihr eure Geschäftspraktiken im Handumdrehen. Und dann ist die Vergangenheit, vor der ihr weglauft, im Nu wieder da.“
Erschienen am 16.7.2025