Theater der Zeit

Diskurs

Unterwegs zu (post)humanen Netzwerken?

Von den Möglichkeiten und Grenzen neuer Verbindungen

Der französische Soziologe Bruno Latour entwarf 2001 ein ‚Parlament der Dinge‘. Der Gedanke ist verlockend: eine Zusammenkunft von Menschen, Dingen, Flora, Fauna etc. – ein demokratisches Kooperationsmodell, ein Netzwerk, in dem nachhaltig und fair Natur und Mensch aufeinander bezogen wären und sie ihre komplex vernetzten Beziehungen aushandeln. Gleiches Rederecht gälte für Dinge und Menschen, und das würde sogar funktionieren, denn in Latours Denken handeln sowohl menschliche Akteur*innen als auch nicht-menschliche Entitäten und sie bewirken etwas. Sage einer, die Wurzel, die den Radweg aufsprengt, handele nicht.

von Wolf-Dieter Ernst

Erschienen in: double 46: Networking – Netzwerkmodelle im Figurentheater (11/2022)

Assoziationen: Debatte Puppen-, Figuren- & Objekttheater Bruno Latour

Netzwerken gegen die Angst, double Diskurs Nr. 11 auf der FIDENA 2022. Foto: dfp 2022
Netzwerken gegen die Angst, double Diskurs Nr. 11 auf der FIDENA 2022Foto: dfp 2022

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Für das Figuren- und Objekttheater wäre so ein Parlament der Dinge eine schöne Sache, und wäre diese Sache quasi als Alleinstellungsmerkmal dieser Theatersparte zu beobachten, ganze Schulklassen würden zur Umwelterziehung in Figurentheateraufführungen geschickt. Man wäre für eine Weile finanziell saniert.

Wir sind bekanntlich weit davon entfernt. Dinge werden weiterhin gerne als stumm, die Natur in Industrie und Wissenschaft gewöhnlich als bereinigte Ressource betrachtet. Jedes Bauprojekt beginnt noch mit einer Tabula Rasa, einer bereinigten und egalisierten Fläche. Menschliche Akteur*innen und ihre Interessen dominieren weiterhin das Feld. Auch im Theater gilt weitestgehend noch ein anthropozentrisches und kein posthumanes Weltbild, und entsprechend werden Geschichten von menschlichen Schicksalen priorisiert. Von neuen ‚weird animisms‘, die der französische Anthropologe Jérémy Damian als sich fügende und uns zustoßende Mitsprache von Natur und Dingwelt entwirft, können wir nur träumen, solange noch beseelt und belebt wird, was zuvor für tot erklärt wurde.

„Ungeheuer ist viel, doch nichts ungeheurer als der Mensch.“

Dabei ist das posthumane Paradigma theoretisch ebenso weit entwickelt, wie die spürbaren ökologischen und politischen Krisen ein notwendiges Umdenken erforderlich erscheinen lassen. Sehen wir der Idiotie ins Auge: Es wird ernsthaft über einen Atomkrieg gesprochen, als seien wir zurück in die 50er Jahre katapultiert. Die Summe der Artefakte übersteigt die der Biomasse, jetzige Generationen evozieren negative Klimaeffekte, die erst nachfolgende Generationen betreffen. „Ungeheuer ist viel, doch nichts ungeheurer als der Mensch.“ (Chor der thebanischen Alten, Antigone) – dieser Vers gewinnt an Aktualität und interessanterweise gehört zu einer der Kulturtechniken, die da von den Alten besungen werden, auch die Vernetzung.

„Und leichtträumender Vögel Welt
Bestrickt er, und jagt sie;
Und wilder Tiere Zug,
Und des Pontos salzbelebte Natur
Mit gesponnenen Netzen,
Der kundige Mann.“

Die gesponnenen Netze scheinen aus Sicht der Vögel und Fische das Gegenteil eines strategischen Vorteils darzustellen; jedenfalls nichts, dem man mit einer Angst außen vor zu bleiben (fear of missing out) begegnen würde. Nehmen wir mal probeweise die Perspektive eines Karpfenschwarms ein und glotzen trübe auf das, was Menschen da am Ufer so treiben. Warum entwickeln Menschen in ‚sozialen Netzwerken‘, auf Szene-Events, bei Sozialkontakten eine fear of missing out? Warum werden auf Theater-Festivals Talkrunden zu Vernetzung in den Künsten veranstaltet, werden Tischgespräche und Partys organisiert, um sich zu vernetzen? Warum gilt in der individuellen Karriereplanung das Vernetzen und ‚connecten‘ inzwischen als Tugend? Und warum ist man zugleich skeptisch gegenüber institutionalisierten Netzwerken wie Parteien, Vereinen, strategischen Seilschaften, Bündnissen, Stiftungen, staatlichen Förderstellen etc. und sucht nach neuen Kooperationsmöglichkeiten? Aus Sicht so eines Karpfenschwarms wäre dieses Verhalten unverständlich, denn diesem Kollektivsubjekt ‚Schwarm‘ fehlt schlicht die Möglichkeit, sich als Individuum für oder gegen diese Existenzweise zu entscheiden. Deshalb entwickelt jeder vereinzelte Karpfen sofort Stress und lebt nicht lange, egal ob im See, im Netz oder in der Wanne.

Vernetzung ist auch Zeichen einer Krise natürlicher Gleichgewichte

Man kann also Vernetzung als Zeichen einer Krise natürlicher Gleichgewichte ansehen. Seit wann hat dieser Begriff der Vernetzung Konjunktur? Dies müsste gesondert erforscht werden. Jedenfalls ist die aus der französischen Theoriebildung über Gilles Deleuze, Michel Serres oder Latour übernommene Metapher ursprünglich einmal das Netz (réseau) gewesen, dem man eine Aktivität des Webens und Knüpfens hinzufügte: Netzwerk. Ein Netz muss ins Werk gesetzt werden, Kanäle, U-Bahnröhren, Datenströme, Adressen oder emotionale Bindungen müssen hergestellt und unterhalten werden. Das sind alles Sprachbilder, die deutlich die Spuren der späten Industrialisierung und Individualisierung zeigen. Der Naturbegriff bleibt da vorerst außen vor.

Charakteristisch für die Krise des natürlichen Gleichgewichts war der double-Diskurs 2022. Er stand unter dem Titel „Netzwerke gegen die Angst“ und fand auf der FIDENA in Bochum statt. In einem ehemaligen Pumpenhaus inmitten post-industrieller Architektur der Jahrhunderthalle trafen sich nun Künstler*innen und Wissenschaftler*innen zum Ideenaustausch. Das war also von Beginn an keine Schwarmintelligenz, da jede*r auf solchen Podien ja aus einer spezifischen Position und mit bestimmter Expertise spricht. Kein Platz für Fische oder Dinge.

Immerhin aber war eine autonome Vernetzung der Wortbeiträge zu beobachten. Li Kemme etwa führte ein ziemlich provokantes Beispiel einer autopoetischen Vernetzung an. Pilze oder junge Pflanzen siedeln sich um einen Schatten spendenden Baum an. Da sie selbst ans Licht wollen, machen sie den Baum krank oder der Baum weiß, dass er alt und im Weg ist, jedenfalls fällt er um, stirbt ab, dient den Nachkommen als Nahrung und erlaubt Zugang zum Licht. Im Resultat verjüngt sich das biologische Netzwerk, es ist evolutionär dynamisch.

Laia Ribera Cañénguez und Antonio Cerezo berichteten von ihrer künstlerischen Zusammenarbeit und nehmen damit quasi die Innensicht eines bestehenden Netzwerkes ein. Ihre Beiträge waren entsprechend polyphon, Halbsätze werden ergänzt. Sie erzählen dem Publikum und sich selbst eine Version des Netzwerkens, deren Wirken zugleich zu beobachten war. Dabei hoben sie die Qualitäten hervor, die im gemeinsamen Ringen um künstlerische Positionen und Ressourcen entstehen. Man vertraut sich, fühlt sich innerhalb einer Szene oder Gruppe von Gleichgesinnten aufgehoben. Das beinhaltet auch den Dissens und die Krisen. Insbesondere während der sozialen Isolation durch diverse Schließungen und Ausgangssperren treten diese Werte in den Vordergrund.

Stefanie Oberhoff stellte hingegen ihr Privileg als gestandene Künstlerin heraus, welches es ihr erlaubte, bislang prekär finanziell bedachte Künstler*innen zu unterstützen. Sie bekomme nun eine nachhaltige Förderung, eine Energie, die sie wiederum – sie zeigt auf ihren Körper in einer Geste, die das Durchströmen anzeigt – zugunsten benachteiligter Künstler*innen in Afrika verwenden könne. Privilegien seien auch Einflussgrößen, die nicht per se abgelehnt, sondern deren Gebrauch überdacht werden könne.

Katja Spiess wendet ein, dass junge Künstler*innen, die quasi mit der Indifferenz Deleuzscher Wurzelwerke (Rhizomatik) argumentieren, unwissentlich die Förderung von Kunst und Kultur als Selbstverständlichkeit annehmen, die Abwesenheit von Förderinstitutionen und rechtlichen Sicherheiten sich aber gar nicht vorstellen können. Eine Realität sei allerdings der Verteilungskampf und jede institutionelle Verstetigung sei auch ein Selbsthalt gegen zu viel Abbau und Verflüssigung von Netzwerken.

Der Autor selbst weist aus theaterwissenschaftlicher Perspektive auf zwei vergessene Aspekte der Netzwerkdebatte hin: Zunächst haben Netzwerke eine Geschichte, die weiter reicht und anderen Werten verpflichtet ist, als die aktuelle Begriffsverwendung es andeutet. Früher gab es etwa Netzwerke im Zeichen des Glaubens, des gesellschaftlichen Fortschritts oder der Gerechtigkeit. Mit Blick auf den Ort der Diskussion, einem Stahlgusswerk der 1840er Jahre, fallen einem Solidarität, Klassenkampf und Brüderlichkeit ein. Die SPD war mal ein Netzwerk, netzwerkte im Geheimen zu Zeiten der Sozialistengesetze. Heute ist sie eine Partei neben anderen. Netzwerke also altern, und das kann man bereits jetzt rekapitulieren. Wie etabliert sich ein Netzwerk, wie endet es und wird etwas anderes?

Zweitens sind Netzwerke wie die der frühen Sozialisten ‚bottom up‘ entwickelt. Es gibt aber auch Netzwerke ‚top down‘, wie etwa LinkedIn oder Xing. In Zeichen neoliberaler Aushöhlung und Durchdringung des Privaten, Sozialen, Gesellschaftlichen ist daher die machtpolitische Struktur zu bedenken. Wer sagt, dass er oder sie Teil eines Netzwerkes sei? Konnte man früher emische Selbstbezeichnung und epistemische Fremdbezeichnungen eines Netzwerkes gut gegeneinandersetzen, macht heute die Übernahme aller möglicher Zuschreibungen in das Selbstbild die Sache unübersichtlicher. Kann man individuell und bewusst behaupten, man sei Teil eines Netzwerkes oder einer Szene oder habe Angst, dort herauszufallen? Ist es endemische Rede oder Fremdzuschreibung, wenn jemand ‚sein Netzwerk pflegt‘ oder ‚netzwerkt‘? Ist Fremdzuschreibung der Fall, augenscheinlich bei Xing und LinkedIn, so gibt es immer eine Instanz, die schlau genug ist, das Netzwerken anderer zu beobachten und zu bewirtschaften, ohne selbst Teil der Angelegenheit zu sein.

Auszug aus dem Pumpenhaus

Während die Runde auf dem Podium ihre Ideen zu neuen Kooperationsformen zirkulieren lässt, ruht sich über ihnen der tonnenschwere Hebekran Nr. 7 aus, zweifelhaft, wofür er wieder genutzt werden könnte. Alle Objekte und Subjekte im Raum muss man für zu leicht befinden und an die schweren Probleme, die diskutiert werden, rührt er nicht ran. Vermutlich ist der Kran selbst bereits das Schwergewicht im Raum. Ein Kran, der sich selbst hebt; komische Vorstellung von Aufwand und Nutzen. Ein Gebläse pustet im Raum daneben Stefanie Oberhoffs Großfigur „Pamela, die Moneymaus“ auf. Dabei gibt es auf dem Gelände auch ein so genanntes Dampfgebläsehaus. Da weht allerdings kein Lüftchen mehr und der Name verweist nur noch auf Geschichte. Draußen über den Abklingbecken kreisen Möwen, Birken wachsen zwischen Backstein und Beton. Den Namen der Stadt Bochum kann man zurückführen auf das Heim unter den Buchen. Die Industrialisierung hat von dieser pittoresken Vorstellung nicht viel übrig gelassen, und offensichtlich diskutieren wir hier im Stadtteil Stahlhausen auch in den Ruinen des Kapitalismus; sitzend zwischen Sondermüll, den die Schwerindustrie den Kommunen als ‚kulturelles Erbe‘ überlassen hat. Alles eine Frage der Deklarierung.

Sollten neue Kooperationsmodelle nicht nur für die Künste gefunden werden, so zeigt dieser Ort, das Pumpenhaus, und diese Diskussion um die „Netzwerke gegen die Angst“ neben allen guten Ideen auch unsere begrenzten Möglichkeiten und Perspektiven auf, solche Kooperationen diskursiv herbeizuschaffen. Man kann sich in dieser post-industriellen Atmosphäre nämlich ganz gut der Vorstellung hingeben, es gäbe zu wenig von allem, weshalb neue Kooperationen notwendig seien für das eigene Fortkommen und Überleben. Und diese neuen Kooperationen werden gerade nicht ressourcenneutral gedacht. Jedenfalls wurden die Dinge und das, was Natur genannt wird, erstmal nachrangig behandelt. Um uns herum schien vielmehr eine übermächtige Kultur, Historie und Menschengeschichte aufgehäuft. Sie war sogar verdichtet zur Idiotie, mit demselben Aufwand, mit denen man hier einst Waffen goss, auch die Friedensglocke von Hiroshima herzustellen. Vielleicht muss man dieselben Zuhörer*innen und Referent*innen tatsächlich mal auf einer Waldlichtung in einem posthumanen Netzwerk versammeln, irgendwo unter Buchen inmitten von Totholz und Pilzen. Ob dann eher geredet oder schwarmartig gelauscht wird, ob die Pilze was sagen oder nur strahlend von Tschernobyl 1986 berichten, müsste man dann allerdings vielleicht einer neuen Form der Themensetzung überlassen. Die Sitzung könnte jedenfalls länger dauern.

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