Thema
Auf sie mit Gebrüll
Die freie Szene ist „schlechter“ als ihr Ruf. Etwas Besseres kann ihr derzeit kaum passieren: Über das anarchofeministische Potenzial in den performativen Künsten
Erschienen in: Theater der Zeit: Das Lachen der Medusa – Feminismus Theater Performance u. a. mit Barbara Vinken (01/2021)
Assoziationen: Hebbel am Ufer (HAU)
Ende Oktober kündigten die Vereinten Nationen ein Waffenembargo gegen mehrere europäische Staaten an, darunter Deutschland. Grund waren massive Verstöße gegen die Pekinger Erklärung, eines der umfassendsten Konzepte zur Förderung der Gleichstellung der Geschlechter, das bereits 1995 von 189 UN-Mitgliedstaaten verabschiedet worden war. In Europa indes, so Bizimungu Jean-Pierre, herrsche völliger Stillstand. In Ruanda etwa sitzen derzeit 61 Prozent Frauen im nationalen Parlament. 31 Prozent sind es im deutschen Bundestag. „Wie kann das sein?“, ruft Bizimungu Jean-Pierre alias Wesley Ruzibiza, unechter UN-Abgeordneter und einziger Mann in dieser feministischen Performance. „Wie kann das sein im Jahr 2020?“
Blickt man auf die Geschichte der freien Theater- und Performance-Szene, scheint das Schuldpotenzial zunächst gering. Vom Druck eines für das Abonnement zu spielenden Stücke-Kanons befreit und in kleine, agile, mehr oder weniger hierarchielose Produktionskollektive unterteilt, gab es in den vergangenen Jahrzehnten kaum eine Emanzipationsbewegung, kaum eine Minderheit, die in der freien Szene nicht performativ und diskursiv auf die Bühne gebracht wurde. Wer hier Frau sagt, gerät automatisch ins Stottern, geht es doch längst nicht mehr nur um das binäre Geschlecht. Mit Fokus auf kulturelle, ethnische, soziale und sexuelle Differenzen wird entschieden Identitätspolitik betrieben. Alles bestens also? Nicht so ganz. Steckt in diesem Programm doch eine komplizierte Dynamik, die Feministinnen wie Gabriele Goettle bereits in den siebziger Jahren benannten.
Die Journalistin war 1976 Mitgründerin der Schwarzen Botin gewesen, einer der spannendsten feministischen Zeitschriften West-Berlins, die sich gnadenlos konfrontativ gegen ihre Mitstreiterinnen positionierte. „Wir erwarten nicht, daß unsere Botschaften Inhalt neuen Frauenfühlens werden, wir haben im Gegensatz die Absicht, von unserer Neigung zur Konsequenz den rücksichtslosesten Gebrauch zu machen“, schrieb Goettle angriffslustig in Ausgabe Nr. 1. Die Redakteurinnen und Autorinnen hatten es sich zur Aufgabe gemacht, die sich soeben formierende Neue Frauenbewegung in Westdeutschland analytisch zu perforieren. Das taten sie – solidarisch im Hinblick auf das grundsätzliche Ziel, jedoch kritisch, was Mittel und Praktiken angingen – voller Intellekt, Verve und Ingrimm. Gefühligkeit, Konsens und Identität bildeten in ihren Augen dabei die größten Ärgernisse der feministischen Strömung. „Es fand eine Solidarisierung größten Stils zwischen den anwesenden Leidenden und der anwesenden Krankenschwesterngewerkschaft statt“, verewigte sich die damals dreißigjährige Elfriede Jelinek in diesem Blatt. Die neue Larmoyanz, ergänzte Gabriele Goettle in ihren „Gedanken über mögliche Formen feministischer Anarchie“, gehe einher mit einem Zwang zur Harmonie: „Wo sich Emotionalität von Frauen auf andere Frauen bezieht, geschieht das oft in einer Form, die alle Widersprüche harmonisiert. Spontane und aggressive Hervorhebung von Widersprüchen oder gar Intellektualität wird verbeten.“ Nachzuschlagen sind diese wunderbar provokanten Sätze in der soeben bei Wallstein erschienenen Anthologie „Die Schwarze Botin“, die nicht bloß retrospektiv zu lesen ist, sondern auch ein „Aber!“ in die aktuelle Debatte platziert, in der Herausgeber Vojin Saša Vukadinović einen ähnlichen Mangel an aufklärerischer Konflikthaftigkeit verspürt wie damals. Ein Vorwurf, der auch dem Theater nicht fremd ist.
Wer Ende November auf nachtkritik.de die Kolumne „Gemeinsame Geschichte(n)“ von Şeyda Kurt las, könnte sich, so essenziell die Forderung nach einem konfliktfreien Miteinander in konfliktreichen Zeiten auch ist, zumindest Fragen stellen. „Ich will Szenen, in denen Menschen sich nachhaltige Versprechen geben, als Freund*innen und Verbündete“, schreibt Kurt in ihrer Suche nach Solidarität auf der Bühne. Ganz klar: Ohne Solidarität ist eine Zukunft nicht zu haben. Aber ist sie wirklich ohne Konflikte, ohne Widerspruch und mehr noch: ohne einen Blick auf die eigenen Schwächen zu erlangen? Ist der Streit nicht der Weg, um nicht im Symbolischen zu verharren? Und geht es im Theater, statt den Idealzustand zu zeigen, nicht sowieso immer auch um die Schattenseiten der Welt, um diese dialektisch zu befragen? So jedenfalls lautet der Grundvorwurf gegenüber dem politisch engagierten Theater: im Überschwang des Anliegens ein allzu harmonisches Wir-Gefühl zu erzeugen. Wie verhalten sich aber die ersten Premieren der Freie-Szene-Spielzeit dazu?
Gefangen im Genital Gap
„Heul doch!“ blafft Nirere Shanel ihre Mitperformerin Lisa Stepf unwirsch an. Diese hatte gerade ihr Leid geklagt, wie schlecht die Frauenquote in Deutschland funktioniere. Die Produktion „Learning Feminism from Rwanda“ der Gruppe Flinn Works in der Regie von Sophia und Lisa Stepf, die kurz vor dem zweiten Lockdown in den Berliner Sophiensaelen Premiere hatte, ist ein Beispiel dafür, wie ein kluger, witziger, reflektierter und dennoch entschlossener Umgang mit dem Thema Gleichberechtigung aussehen kann. In blauen Arbeiteroveralls, als ginge es gleich auf den Bau, rütteln und ruckeln Yvette Niyomufasha, Natasha Muziramakenga, Wesley Ruzibiza, Nirere Shanel und Lisa Stepf am wackligen Kartenhaus der Quote, im fröhlichen, mitunter schmerzhaften Vergleich ihrer jeweiligen Länder so manchen Konstruktionsfehler entlarvend – Missverständnisse natürlich nicht ausgeschlossen. „You have what?“, fragt Natasha Muziramakenga als Moderatorin einer feministischen Sendung auf Radio Byishimo die Anruferin aus Deutschland, die soeben vom Gender-Pay-Gap berichtete: „You have a genital gap?“ Das sei, plaudert die Moderatorin ungerührt weiter, doch völlig normal. Es gebe eben kleine Schwänze und große Schwänze. Sowieso solle sich die Deutsche mit ihrem Zahlenfetisch doch lieber um das innere Parlament ihres Körpers kümmern. Auch das ist angewandter Feminismus.
Immer wieder blickt Lisa Stepf in dieser rasanten Entwicklungshilfe unter umgekehrten Vorzeichen – endlich klärt mal ein afrikanisches Land Europa auf – peinlich berührt zu Boden ob der ungeheuren Differenzen zwischen den Staaten. In Ruanda sind weite Teile des Landes ans schnelle Glasfasernetz angeschlossen, Deutschland liegt mit 4,1 Prozent lediglich auf Platz 34 im OECD-Vergleich. Fakt ist: Während Deutschland Frauen nach der Stunde null im Jahr 1945 zurück an den Herd schickte, entsandte Ruanda nach dem verheerenden Völkermord 1994 viele Politikerinnen dank einer starken Frauenbewegung in die Parlamente. Die Quotenregelung gilt von der Dorfverwaltung bis hin zur Landesregierung. Doch ist eine Quote – kleine Kalenderspruchkunde – eben nicht alles: In Ruanda, berichtet Nirere Shanel, heiße eine Frau, die recht passabel sei, Mukobwajana, ein „Mädchen, das einhundert Kühe wert ist“. Doch komme von dieser, dem Sprichwort sei Dank, selten ein guter Rat. Der Ehefrau sei daher geraten, sich als „Helferin“ niemals gegen ihren „Anführer“ zu stellen. Dem Ehemann freilich sind Fehler bloß Teil seines virilen Naturells. Noch Fragen?
Ja. „Wie sind wir als Frauen bloß in diese Geschichte geraten? In diese jahrhundertealte Erzählung, in der das Ausbleiben der Periode die Schwelle zur Hässlichkeit bedeutet?“ Diese hässliche Frage stellen sich She She Pop in ihrer neuesten Produktion „Hexploitation“, die zu Beginn dieser Spielzeit am HAU Hebbel am Ufer in Berlin Premiere hatte. Der Raum im Hau 2 gleicht im Moment dieser Sätze einer geheimnisvollen Unterwasserwelt. Wie zarte Seeanemonen pulsieren an den Wänden riesengroße Vulven. Wer nun glaubt, nur weil es sich um die live abgefilmte und vervielfachte Vulva Fanni Halmburgers handelt, sie und ihre Besitzerin sprächen hier nur von sich selbst, hat nicht nur die Szene, sondern auch She She Pop nicht verstanden. Der Abend ist eine brodelnde Mischung aus Hexensabbat und Ausbeutungsdiskurs, der zwar, wie bei She She Pop üblich, seinen Ausgang im radikalen Exhibitionismus der jeweiligen Gruppenmitglieder nimmt, jedoch nahezu unmittelbar in eine umfassende, Jahrzehnte umspannende Strukturanalyse überkocht. Im Hexenkessel sitzen: die pathologisierte Frau um die fünfzig („In den achtziger Jahren wird die Menopause als Östrogenmangel definiert.
Ich bin also krank und werde immer kränker.“); die medizinische Forschung, die ihre Medikamente grundsätzlich am Organismus des Mannes orientiert; eine ziemliche Armada misogyner Dichter und Denker (Rainer Maria Rilke „Die Welke“) und viele Schlechtigkeiten mehr, kombiniert mit schonungslosen Nahaufnahmen von Körperfalten, Hängetitten und schütter werdendem Haar der Gruppenmitglieder. Wer hier Authentizität kreischt, muss auch Brechung rufen, denn der so viel gescholtene Authentizitätsbegriff wird, wie eigentlich immer bei She She Pop, in diesem lecture-performativen Gesamtkunstwerk aus Text, Musik (Santiago Blaum), Video (Benjamin Krieg) und schrägen Kostümen (Lea Søvsø) gekonnt unterlaufen, dabei die Frage nicht aussparend, wie viel man als Frau selbst zur eigenen Demontage beigetragen hat.
Verdient um den Feminismus hat sich auch die Gruppe Thermoboy FK gemacht, die, potz Blitz, aus lauter Männern besteht. In ihrer bereits 2018 entstandenen Jane-Austen-Aneignung „Stolz und Vorurteil“, die am 8. Januar nochmals als Stream am Lichthof Theater in Hamburg gezeigt wird, spielen sie all die „wunderbaren“ Rollen, die ihre Kolleginnen, zumal an Stadttheatern, am liebsten in die Tonne kloppen würden: liebende und daran leidende Frauen. Das Erstaunliche daran: Der Abend ist keine Klamotte, sondern die konzentrierte Adaption eines Romans, der immer auch eine Spur absichtsvoller Dilettantismus beiwohnt. Die Spieler (Malte-Levin Behrens, Florian Brunken, Moritz Brunken, Janis Fisch, Jan Felix Hahn, Dennis Dieter Kopp, Felix Scheer und Jasper Tibbe), deren georgianische Kostüme zwischen Kleid, Hosenrock und Hose changieren (Kostüme Harm Coordes und Jan Felix Hahn), kopieren keine Weiblichkeit. Vielmehr lassen sie Austens gefühlige Sprache wie an einer Wäscheleine vor sich hängen – um sie von allen Seiten zu betrachten. Gerade dadurch entsteht in diesem liebevollen Theater mit Wanderbühnen-Flair, in dem handgemalte Täubchen auf quietschenden Schienen den Himmel durchmessen, so etwas wie Wahrhaftigkeit: Die Konstruktion „Mann“ löst sich nach und nach auf. Da ist es also, das fluide Geschlecht, das eine Lebens- und Liebesgemeinschaft ermöglicht, die nicht mit binären Kategorien hantiert, jedoch auch, das ist das Böse in diesem Fall, als Privileg der oberen Klassen obsiegt.
Das Lachen der Partisanen
Am entschiedensten aber rückt die Berliner Performerin Vanessa Stern dem Identitätsdiskurs zu Leibe. Ihre neueste Produktion „Sleeping Duties“, ein Theaterfilm, der im Lockdown für die Sophiensaele entstanden ist, nimmt die marginalisierte Gruppe der Nagetiere in den Fokus. In deutlicher Betonung einer Body-Positivity-Policy handelt der Film von einem wohlgenährten Hamster, einem nicht ganz schlanken Igel, einem junonischen Siebenschläfer und einem stattlichen Eichhörnchen, unter deren struppigen Pelzen Valerie Oberhof, Stephanie Petrowitz, Ursula Renneke und Vanessa Stern stecken. Im kammerspielartigen Setting eines modernen Postkutschen-Westerns sitzen die vier zusammengepfercht in einem Schlafwagen, um, ja: bloß nicht zu schlafen – denn schlafen wollen sie erst am Ziel, in Spitzbergen.
Elfriede Jelinek hatte in ihrem damaligen Aufsatz über den Besuch einer Frauenversammlung beklagt, wie wenig Humor ihre Mitstreiterinnen besäßen. Während Frauen bejubelt würden, die sagten, wie sehr sie ihre Krampfadern liebten, sei die Satire sehr unbeliebt gewesen, „vermutlich, weil sie nicht-wie-du-den Schmerz fühlen kann“. Jelinek ging in ihren Texten bekanntlich zum Gegenangriff über mit einem Witz, der einen lachend wie weinend macht. Und auch Vanessa Stern steht in dieser Tradition. „Das Lachen“, so ein programmatischer Text von Marianne Schuller auf ihrer Internetseite, „läßt sich nicht formieren zu einer kritischen Gegenstimme der Opposition, die einen ausmachbaren Platz und eine kalkulierbare Funktion im Machtspiel zugewiesen bekommen könnte. Vielmehr setzt das Lachen auch noch diese machtfunktionale Regel der Bipolarität außer Kraft.“ Und so wird auch in dieser partisanenhaften Nager-Groteske von allen Seiten geschossen: auf den Kontrollwahn gestresster Igelmütter, auf Helikopter-Eltern und Macho-Hamster, auf ein Wirtschaftssystem, das Nager an den Rand des Existenzminimums treibt, und die Unfähigkeit von Lebewesen, nah beieinander zu hocken, ohne sich dabei gewaltig auf den Wecker zu gehen. Ja, die freie Szene ist „schlechter“ als ihr Ruf. Gerade darin liegt ihre politische Kraft.
„Eine anarchofeministische Bewegung“, hatte Gabriele Goettle in „Gedanken über mögliche Formen feministischer Anarchie“ erklärt, „wird nicht zu erkennen sein an einer hierarchisch organisierten und strukturierten Partei mit Programm und Status als eingetragenem Verein, sondern an subversiven und anarchen Aktivitäten, die von unzähligen kleinen Gruppen ausgehen.“ Wie jenen der performativen freien Künste. //