Doch immer war’s ein Tanzen ohne Ende
Notizen zu Sankai Juku
von Raimund Hoghe
Erschienen in: Recherchen 150: Wenn keiner singt, ist es still – Porträts, Rezensionen und andere Texte (1979 - 2019) (09/2019)
Hinter einem roten Kreis ein Mann in farbloser Uniform, dessen Körper zum monotonen Takt eines Metronoms gleichmäßig schwingt und plötzlich wie ein Brett zu Boden fällt; ein stolzer Pfau in den Armen eines kalkweißen Mannes mit rasiertem Schädel; vier weißgeschminkte Tänzer, die sich in merkwürdigem Tanz wiegen und langsam ihre Hüllen fallen lassen – Bilder aus einer Vorstellung von Sankai Jukus Kinkan Shonen, denen ich in Werner Schroeters 1980 über das Festival von Nancy gedrehtem Film Generalprobe zum ersten Mal begegne. Ein Jahr später sehe ich die Mitte der siebziger Jahre von dem Tänzer und Choreografen Ushio Amagatsu gegründete japanische Theatergruppe in Avignon. In einem alten Kirchenraum zeigen Amagutsu und seine vier Tänzer ihre neue Produktion Bakki, die wieder sehr reich ist an ebenso fremden wie vertrauten Bildern. Bilder, die unübersehbar in einem anderen Kulturkreis entstanden und doch nicht bloß exotisch wirken, die fern und zugleich nah sind, sich mit Worten schwer festhalten lassen. Der 33-jährige Amagatsu in einem Interview: „Der Tanz ist eine viel direktere und reichere Sprache, die sehr viel weiter geht als das Wort und ausdrücken kann, was man sonst nicht sagen kann.“ Nach einem Gespräch über seine Arbeit fordert er mich auf: „Please write about your feelings“ – das sei immer das Beste.
Aus dem Hintergrund der Bühne kommt mit kleinen Schritten ein Mann nach vorn, groß wie ein Zwerg, mit dem alterslosen Gesicht eines Kindgreises. Wie er sich zu lauter Dudelsackmusik langsam und schwerfällig der Rampe nähert, erinnert er an das empfindsame Nilpferd in Pina Bauschs Arien, das sich ebenso vorsichtig einer Frau näherte und, ausgelacht von ihr, wieder ins Bühnendunkel zurückbewegte. Ushio Amagatsus kleiner Mensch lacht selbst. Steht an der Rampe und lacht ein Lachen, von dem man nicht weiß, ob es nicht ein Weinen ist, das sich hinter einem Lachen zu verbergen, zu schützen sucht. Mit diesem Lachen, das stumm ist und als sehr laut im Gedächtnis zurückbleibt, geht er zurück und entdeckt den aufs Glas gemalten Kreis. Nähert sich ihm und stößt an die Scheibe. Hält inne. Geht weiter und lacht weiter. Steht vor einer Stufe und versucht, die für ihn kaum überwindbare Barriere zu überwinden. Unternimmt immer neue Ansätze. Schafft es – und erlebt schon wenig später die neue Höhe als Abgrund. Hebt die Arme wie Flügel und stürzt. Bleibt wie ein Embryo eingerollt auf der Seite liegen. Bewegt sich vorsichtig. Entdeckt sich, eine Hand, ein Bein, seinen Körper, der sich aus der Kleidung schält und wächst, groß wird, normal. Aus seinem Lachen ist ein Weinen geworden. Wie über einen Verlust weinend steht er da, steht da als Frau im bodenlangen schwarzen Abendkleid und tanzt. Tanzt und tanzt, als könne er nicht mehr aufhören und suche jemanden, der ihm helfen könne, diesen Tanz zu beenden. „Please stop dancing“, sagt Amagatsu einmal nach einer Vorstellung. In einem Gedicht heißt es: „Doch immer war’s ein Tanzen ohne Ende.“
„Dieses ungeheure Maß an verzweifelter Zärtlichkeit“. Einander suchen, einander bekämpfen. Zwei Männer gehen nebeneinander. Überqueren Seite an Seite die Bühne. Nähern sich allmählich dem Kreis auf Glas. Entfernen sich voneinander. Beiläufig bewegt sich ein Pfau zwischen ihnen. Getrennt voneinander nehmen sie im Zeitlupentempo Haltungen ein, Posen. Erst angestrengt, später immer genüsslicher, lockender. Aus den Lautsprecherboxen ertönen sanfte Miles-Davis-Klänge. Ein zweites Paar kommt. Begegnungen entstehen. Es kommt zu Berührungen, die an Zärtlichkeit denken lassen, sehr vorsichtig sind und behutsam. Doch aus der Vorstellung von Zärtlichkeit wird ein Kampf, Ringkampf und Geschlechtsakt. Die Bewegungen werden immer schneller und heftiger, die fast nackten Körper zu Boden geworfen – bis zur Niederlage, zum Sieg und einem letzten Kuss. Ushio Amagatsus Stücke sind voll solcher Verwandlungen, Verbindungen, Veränderungen, reich an fließenden Übergängen zwischen Zärtlichkeit und Gewalt, Schönheit und Schmerz, Liebe und Tod. Seine Arbeiten, sagt Amagatsu, seien mindestens zwei Seiten einer Sache – so auch in seinem Stück Bakki. In einer Szene steht er hinter einer Glasscheibe und tanzt. Die Bewegungen sind wieder sehr reduziert und zart. Das weiße Gesicht des Tänzers ist lange Zeit nur im Profil zu sehen. Erst spät wird auch die lange verborgene Seite sichtbar – eine entstellte und verletzte. Der Moment, in dem er die Wunde zeigt: für mich einer der schönsten und erschreckendsten (Theater-)Momente der letzten Jahre.
„Mit nichts entblößt man sich so wie mit Masken. Nackt, um zu entschlüpfen“, so Jean Genet, neben Lautréamont, de Sade, Visconti, Mahler und Duchamp einer der europäischen Wahlverwandten des „Butoh“, jener Richtung des japanischen Theaters, die in den 1960er Jahren entstand und bis heute eine Herausforderung im japanischen Kulturleben geblieben ist, sich erheblich vom traditionellen Theater unterscheidet und doch nicht zuletzt auf der Suche nach der verlorenen Basis des Traditionellen ist. „Kabuki oder No ist heute so simpel und technisch, aber in der Vergangenheit war es ganz anders, viel komplizierter – da ging es nicht nur um Technik. Wir müssen wieder an den Ursprung denken, an das Innere, aus dem das Kabuki- oder No-Theater entstand. Es geht nicht darum, nur die Technik des Traditionellen zu gebrauchen, wir müssen etwas anderes finden – auch wenn es schwierig ist. Aber ich denke, es ist möglich“, meint Ushio Amagatsu. „Wir müssen versuchen, mit diesem Leben zu leben.“
Ausgangspunkt seiner Arbeiten sind nicht zuletzt Erfahrungen von heute. Vorbereitung für die meist in nur anderthalb Monaten realisierten Stücke sei das eigene Leben. „Ich glaube, es ist wichtig, dass wir nicht nur zusammen arbeiten, sondern auch zusammen leben. Dadurch weiß ich viel mehr über die anderen Tänzer“, sagt Amagatsu, der neben dem mittlerweile legendären Kazuo Ohno zu den wichtigsten Vertretern des Butoh zählt. Wie schwer die von Ohno und Tatsumi Hijikata eingeleitete Butoh-Bewegung einzuordnen und festzulegen ist, ließ sich beim diesjährigen Theaterfestival in München nachvollziehen, wo neben Sankai Juku, Min Tanaka und Eiko & Koma auch der 76-jährige Ohno zu sehen war, mit Stücken, die in ihrer grenzenlosen Sehnsucht und ihrem großen radikalen Pathos aus einer anderen Welt zu kommen schienen und deutlich machten, dass Butoh mehr ist, als nur eine Theatervorstellung zu spielen – „es ist Leben und ich muss dabei mich, meinen Körper verstehen und finden“. Doch mit Worten könne er Butoh nur schwer definieren, bekennt Ushio Amagatsu. „Ich kann meine Antwort nicht sagen, nur tanzen.“ Und wenn er sie wüsste, „dann würde ich vielleicht aufhören zu tanzen“.
Parlez-moi d’amour. Sankai Juku spricht in seinen Stücken auch und immer wieder von der Sehnsucht und der Schwierigkeit zu lieben. Zum Beispiel in Kinkan Shonen, dem „erinnernden Traum eines geschorenen Knaben“, zum Beispiel in der Eitelkeit der Natur überschriebenen Geschichte eines Mannes und eines Pfaus. Der Mann hält den Pfau in seinen Armen, scheint mit ihm zu tanzen, presst sich an ihn, bewegt sich zärtlich mit ihm und hält seinen Hals und seinen Körper fest umschlossen. Geht mit ihm vorsichtig auf den Kreis zu. Steht mit ihm hinter dem roten Rund wie vor einem Spiegel, stolz und erschreckt, voller Sehnsucht und Trauer. Entfernt sich. Lässt den Körper und dann auch den Hals des Pfaus los. Lässt ihn frei und fliegen – und hält ihn doch immer noch in den Armen. In Bakki bewegen sich zwei Kreise unmerklich aufeinander zu.
Bilder von erlesener Schönheit konstatierten Kritiker nach dem ersten Auftritt von Sankai Juku in Deutschland. Doch die Bilder der Schönheit sind nicht ungebrochen, die makellosen Körper verwundet. Der Mann mit dem Pfau hat eine kraterähnliche Wunde am Kopf, schmale rote Spuren verlaufen an Beinen und Ohren, die maskierten Gesichter der Tänzer, die zum „Ritus höchster Feierlichkeit in der Mitte der Stadt“ zusammenkommen, wirken wie offene Wunden, zerschossen, zerstört. Als ich später mit einem Freund darüber spreche, überrascht ihn meine Reaktion: Für ihn seien es nur angelegte Masken gewesen, weder erschreckend noch grauenhaft. Mit ihnen tanzen sie. Tasten blind nach dem Raum, nach dem anderen. „Wenn sie meine Hand auslassen, ist es, als wären wir tausend Meilen voneinander entfernt“, sagte einmal eine Taubblinde, die nur über ihre Hände Kontakt zur Außenwelt haben kann. Die Tänzer halten ihre Hände, als würden sie etwas sehr Kostbares und Zerbrechliches forttragen und beschützen. Und was wie ein Totentanz begann, wird zu einer Feier des Lebens. Die zerstörten Gesichter sind nicht mehr zu sehen. Mit dem Rücken zum Publikum tanzen die Männer sich wiegend und entblößend aus dem Raum.
Hinter einem roten Kreis ein Mann in farbloser Uniform, dessen Körper zum monotonen Takt eines Metronoms gleichmäßig schwingt und plötzlich wie ein Brett zu Boden fällt: Wenn er in diesem ersten Bild von Kinkan Shonen plötzlich stürzt, ist das auch ein Sturz zurück in die Kindheit. Zusammengekauert liegt er dann da und entdeckt die Welt wie ein Kind. Entdeckt das Sehen, das Hören, das Tasten, das Riechen, das Schmecken. Nimmt auf wie nur ein Kind aufnehmen kann. Wirft sich wieder und wieder die auf dem Boden liegenden Reiskörner und Sand in den Mund, spuckt sie aus und wirft sie sich wieder in den Mund – mit einer Ausdauer und Unbeirrbarkeit, einer Lust und einer Verzweiflung, die an Charlie Chaplins Tramps erinnert. Ein andermal fasziniert mich vor allem das Gehen der Figuren. Vorsichtig setzen sie einen Fuß vor den anderen – als könne jeder Schritt in den Abgrund führen, ins Unbekannte, Vergessene. Für einen Moment denke ich, dieses Gehen zeige eine Möglichkeit zu leben – immer wieder so, als sei es das erste Mal.
„Das direkte Gefühl ist wichtig“, meint Ushio Amagutsu zu seinen Aufführungen, die er eher als Zeremonien denn als Ballette sieht. „Ich denke immer an eine Zeremonie, wo Leute für zwei Stunden zusammenkommen und dann wieder in ihr Leben zurückgehen. Es sind nur zwei Stunden und nur fünf Leute spielen, aber es ist dieselbe Zeit und derselbe Raum – und in dieser Zeit entsteht vielleicht eine Veränderung.“ Wenn er in seinen Stücken von Liebe und Gewalt, Geburt und Tod, den Stürzen aus dem Kindheitstraum und schmerzhaftem Erwachsenwerden spricht, macht er Lust auch auf Veränderungen. Mut zu direkter Erfahrung und Utopie. Sankai Jukus Arbeiten geben eine Vorstellung davon, dass alles ganz anders sein könnte.