Theater der Zeit

Freie Szene

Feldmanöver

Gespräch: Die freie Theatergruppe Grass Stage spielt an den Rändern der Gesellschaft, um dort, wo keiner hinschaut, Öffentlichkeit zu generieren

Grass Stage ist eine unabhängige Theatergruppe in Shanghai. Schriftsteller und Theatermacher Zhao Chuan leitet die Aktivitäten und künstlerischen Produktionen der Gruppe, die seit ihrer Gründung 2005 an Aufmerksamkeit gewonnen hat und einen gewissen Einfluss ausübt. Grass Stage ermutigt normale Menschen, sich mit Theater zu beschäftigen, erweitert die Vorstellungen von einer Ästhetik zwischen Kunst und Gesellschaft und setzt sich für eine neue soziale Theaterbewegung ein. Der Schwerpunkt von Grass Stage liegt auf der Verbindung von Theateraktivitäten mit dem sie umgebenden Leben. Über viele Jahre hinweg wurden auf vielfältige Art und Weise unterschiedlichste Räume genutzt, um Aufführungen und Diskussionen jenseits gewinnorientierter Bestrebungen zu organisieren und Kulturstationen (Culture Outposts) einzurichten. Ihr Theater wurde zu einem Ort, an dem sich Menschen aus den unterschiedlichsten Kontexten treffen. Beständig erschafft die Gruppe flexible Räume von Öffentlichkeit.

von Tao Qingmei und Zhao Chuan

Erschienen in: Theater der Zeit Spezial: China (12/2015)

Assoziationen: Freie Szene Asien

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Zhao Chuan: Zwei Jahre nachdem Grass Stage gegründet wurde, also 2007, spielten wir in Taipeh und Hongkong. Nach Meinung der Theatermacher in Taipeh war der „Körper“ in unseren Aufführungen problematisch. Sie meinten jedoch optimistisch, wenn wir noch ein paar Jahre weiterübten, könnten wir das verbessern. Ich war damit nicht ganz einverstanden. Die Frage für mich ist nicht, ob unser Körper gut ist oder nicht, sondern ob wir den gewöhnlichen Weg gehen und der Entwicklung anderer folgen, so dass am Ende Grass Stage zu einer Art Körpertheater wird.

Tao Qingmei: Von heute aus können wir die Aufführungen in Taipeh und Hongkong besser verstehen. Davor war Grass Stage immer zugleich auf der Suche nach Mitteln und Methoden. Mein Gefühl ist: Als das experimentelle Theater nach Taiwan, Korea, Japan kam, verband es sich immer mit lokalen gesellschaftlichen Bewegungen, um seine eigene Form zu entwickeln. Doch bei uns gab es anscheinend nichts dergleichen, daher hofften wir sehr, Methoden und Ästhetik von anderen zu lernen und durch unsere Art eines „Theaters im Volk“ eine Form zu finden, wie sich experimentelles Theater mit Gesellschaft verbinden kann. Dieser Prozess begann 2005, als Grass Stage das erste Mal in Korea gastierte. 2007 folgten Taipeh und Hongkong, wo wir auf die Erfahrungen in Ostasien sowie in Hongkong trafen.
Nachdem ich mit euch aus Taiwan zurückgekehrt war, ging ich mit Sakurai Daizo nach Japan, um dort mit ihm Zelttheater zu machen. Doch genau zu der Zeit, als wir damit eine erste Saison erfolgreich bestritten hatten, verlor das „Zelt“ für mich seine Aura. Ich war enttäuscht, denn ich merkte, dass diese Formen nichts mit uns zu tun hatten – nur warum es mit uns nichts zu tun hatte, das konnte ich damals nicht sagen. Intuitiv spürte ich, dass die körperliche Darstellung und die Aufführungspraxis nichts mit der chinesischen Realität zu tun hatten, dass keine wirkliche Verbindung entstanden war und das nicht unser Weg war.

Zhao Chuan: Ich bin der Meinung, dass es die ursprüngliche Absicht von Grass Stage war, die starre Aufführungspraxis und formalistische Theaterästhetik zu überwinden. Der Raum, in dem wir ruhig und sicher Kunst zu machen glaubten, sollte aufgebrochen werden. So gaben wir 2008 unsere gewohnte kollektive Produktionsweise vorübergehend auf und legten unseren neuen Fokus auf Soloproduktionen und immer noch stark körperlich ausgerichtete Aufführungen. Andererseits wollte ich hinausgehen und unter freiem Himmel und an öffentlichen Orten spielen, um auf „echte“ Räume und Menschen zu treffen. In jenem Jahr spielten wir in vielen verschiedenen Räumen, im Hof und auf dem Flur einer Schule, in Hörsälen, auf Laufstegen, in einem Zitherklub, in der Aula einer Bibliothek. Ich nenne jene Tournee „Feldmanöver“.

Tao Qingmei: Als Wissenschaftlerin gibt mir Grass Stage einen besonderen Blickwinkel und hilft mir dabei, das experimentelle chinesische Theater der Gegenwart zu beobachten. Welche Veränderungen kann es noch geben? Von makroskopischer Ebene aus betrachtet, befand sich das experimentelle Theater Chinas zur Zeit Meng Jinghuis (siehe auch Porträt S. 12) an einem Wendepunkt, es bewegte sich in Richtung Kommerz. Regisseure wie Mou Sen (chinesischer Avantgarde-Regisseur, Anm. d. Red.) hatten sich im neuen Jahrtausend zurückgezogen; Wu Wenguang (chinesischer Dokumentarfilmer, Anm.d.Red.) und Tian Gebing (Gründer des Beijinger Paper Tiger Theater Studios) folgten, neben vielen anderen, seinem Weg; aber sie hielten auch weiterhin Verbindung zu einigen europäischen Theaterfestivals. Ihre Performances sind immer noch interessant, doch das heutige China hat sich mittlerweile vielfach verändert. Ihre Sprache aber steht nach wie vor in der Tradition von Mou Sens Sprache aus den 1990ern. Auch einige junge Regisseure wie Wang Chong, Li Jianjun (siehe auch Text S. 20), orientieren sich nach wie vor an ausländischen Theaterfestivals. Die Dinge, die sie verhandeln, haben daher ihre Wurzeln in internationalen Trends. Wenn die internationale Szene auf Multimedia steht, verwenden sie Multimedia, wenn sie mit dem alltäglichen Leben spielt, tun sie es ebenfalls. Ihnen fehlt eine starke Ideenlehre, wie Mou Sen sie zu seiner Zeit besaß. Egal welche Methode du also verwendest, alle diese Darstellungen des alltäglichen Lebens werden uninteressant und fad.
In Grass Stage sehe ich den Versuch des experimentellen chinesischen Theaters, sich von westlichen Theaterfestivals in Inhalt und Ästhetik zu lösen – natürlich gibt es zahlreiche parallele Züge, doch in seiner Ausrichtung macht es sich auf die Suche nach einer eigenen Existenzform. Die wichtigste Bedeutung von Grass Stage liegt für mich darin, dass es seine Existenz nicht auf Kapital stützt, weder auf chinesisches noch auf internationales. Das ist ein sehr spezieller Ansatz. Bislang habe ich nichts Vergleichbares gesehen. Dies ist vielleicht der schwierigste Schritt, den das experimentelle Theater in China gehen muss.

Zhao Chuan: Auch ich denke darüber nach, was man über die Entwicklung von Grass Stage in diesen Jahren sagen kann. Man könnte es von zwei Seiten aus betrachten. Einerseits versuche ich selbst darüber zu urteilen, dabei gehe ich von innen nach außen vor. Andererseits gibt es Diskussionen mit Leuten wie dir, die das Theater von außen betrachten. Auch mein Verständnis von Grass Stage hat sich in diesen Jahren immer wieder verändert und entwickelt sich weiter.
Die heutigen chinesischen Stadttheater, egal ob groß oder klein, und unsere Theaterakademien unterliegen dem Einfluss einer globalisierten westlichen Kultur. Dieser Einfluss führt allerdings nur in einigen wenigen Metropolen zu Vitalität. Sogar für Städter bedeutet ein Theaterbesuch eine Schwelle, die erst mal überwunden werden muss; man benötigt bestimmte Mittel. Diese sind zunächst wirtschaftlicher Art. Die Tickets für die chinesischen Stadttheater sind sehr teuer. Leute aus der Arbeiterklasse können sie sich kaum leisten. Außerdem braucht man, um einen Fuß in ein Theater zu setzen, kulturelles und inhaltliches Vorwissen oder wenigstens den Willen, sich dieses Wissen anzueignen. Daher werden wohl viele Chinesen, solange sie leben, nie einen Fuß in ein Theater setzen. Es gibt keine Hoffnung für sie. Sind unsere zeitgenössischen Theater fähig, diese Entwicklung zu unterbrechen, die Konventionen des Kapitals zu unterbrechen, so dass sich das Theater wieder im Leben der heutigen Menschen und auch in unserem eigenen verortet? Was ist Theater eigentlich?
Für mich ist Theater zuallererst ein Ort, an dem Menschen sich versammeln können. Das hat nicht nur mit der Aufführung auf der Bühne zu tun, sondern auch mit der Art, wie wir uns versammeln. Die Form des Theaters und die Vorstellung davon, warum wir uns dort versammeln, bestimmen die Entwicklung seiner Ästhetik. Es geht nicht darum, wie man etwas auf der Bühne darstellt, es geht darum, wie in einer theatralen Situation Schauspieler vor dem Publikum auftreten, wie sie sich ausdrücken und kommunizieren. Für mich ist das Wichtigste, zum Theater in seiner grundlegenden Form zurückzukehren.
Die meisten Vorstellungen von Grass Stage sind kostenlos, ein Grund dafür ist, dass so die Zensur umgangen werden kann. Von den ersten Feldmanövern „Kleine Gesellschaft“ (Xiao shehui) bis zur Produktion „Weltfabrik“ (Shijie gongchang) gab es zahlreiche Publikumsgespräche, die sehr lebendig waren. Heute möchte ich sie als Theater nach der Vorstellung bezeichnen. Sie errichten eine neue Form von Beziehung zwischen Publikum und Aufführung: vom Einrichten eines temporären Theaterraumes über das kollektive Erschaffen von nichtprofessionellen Aufführungen bis hin zur nachfolgenden Diskussion mit dem Publikum.
Seit zehn Jahren gibt es nach jeder Vorstellung von Grass Stage Publikumsgespräche, die ein Dutzend Minuten bis über eine Stunde dauern können. In diesem Theater nach der Vorstellung übernehme oft ich die Moderation, doch die Zuschauer spielen die wichtigste Rolle dabei. Sie erheben sich aus der Masse der Menschen und äußern sich laut, loben, stellen kritische Fragen, diskutieren. Somit ist für Grass Stage nach der Vorstellung das Theater in keiner Weise vorbei, sondern es verschmilzt mit Gedanken und Gesten des Publikums, und die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum wird aufgebrochen.
In unserem „Theater nach der Vorstellung“ gibt es heftige Diskussionen, und es fließen Tränen. Manche Menschen steigen auf die Bühne und singen, andere gehen aufeinander los. Gefühle und Überlegungen, die während der Vorstellung aufgekommen sind, finden eine Weiterführung oder einen Ausgang. Wir bauen ein Theater im gesellschaftlichen Raum, im Raum von Menschen, die auf das Leben reagieren wollen, daher ist das Theater nach der Vorstellung der von mir am stärksten ersehnte Augenblick; das Theater wird zu einem Raum für aktuelle Fragen, der eng mit unserem Leben verbunden ist.

Tao Qingmei: Bei Grass Stage hat von „Kleine Gesellschaft“, einer Produktion über die unteren Gesellschaftsschichten, bis zu „Weltfabrik“ ein Wandel von äußerer Beobachtung zu einer inneren Perspektive stattgefunden.

Zhao Chuan: Im Frühsommer 2014 führten wir unsere neue Produktion „Weltfabrik“ in sechs Städten auf. Sie war inspiriert von einer Reise nach Manchester, die ich 2009 unternommen hatte; die Vorbereitung hatte vier, fünf Jahre gedauert. Diese verbanden wir mit der zehnjährigen Produktionstradition von Grass Stage, verknüpften Diskussion, Recherche, Dokumentation und Workshops zu einem kollektiven Werk. Die Arbeit handelt von Fabriken, sie erkundet die zeitlichen, räumlichen und politischen Ebenen im globalen Produktionsprozess, angefangen bei den ersten Weltfabriken bis hin zum gigantischen Ausmaß, das sie im heutigen China angenommen haben; vor allem legt sie den Fokus auf das Leben und die Lebensumstände der Arbeiter. Von der industriellen Revolution bis heute hat die Welt zahlreiche Veränderungen durchgemacht. Wie schreiben die Arbeiter heute die Geschichte der Weltfabrik weiter? Was für Fabriken benötigen wir, was für eine Welt wollen wir? Dies sind die Fragen, die in dieser Produktion diskutiert werden.

Tao Qingmei: Der „Eintritt“ in die Gesellschaft ist eine sehr schwierige Sache. Der Körper muss eintreten. Dies ist nicht der aufführende Körper, von dem wir zu Beginn gesprochen haben. „Der Körper muss eintreten“ bedeutet: Du hast ein Paar Augen, mit denen du dich selbst betrachten kannst, damit musst du deinen eigenen Körper ansehen, wie er sich verhält, wenn er mit den Arbeitern zusammen ist. Das ist eine bewusste Sache. Er zwingt dich, nach innen zu gehen. In diesem Prozess wird sich die Beziehung zwischen euch und den Arbeitern und der Fabrik zeigen. Ich denke, dieser Prozess ist schmerzhaft und schwierig. „Weltfabrik“ legt diese Schmerzen offen, nicht um sie zu repräsentieren und darüber zu reden und noch weniger, um soziale Gerechtigkeit zu erstreben; sondern um darüber nachzudenken, was dies alles für dich und deinen Körper bedeutet. Da stellt sich die Frage: Ist Grass Stage in dieser neuen Beziehung zur Gesellschaft imstande, sich selbst neu zu erfinden?

Zhao Chuan: Richtig. Das ist tatsächlich unsere wichtigste Aufgabe. //

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