Stimme im postdramatischen Theater
von Viola Schmidt
Erschienen in: Mit den Ohren sehen – Die Methode des gestischen Sprechens an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin (04/2019)
Was passiert aber mit den Stimmen, wenn Figuren und dramatische Handlung in den Hintergrund treten oder ganz verschwinden? Die rasanten Entwicklungen unserer Zeit machen vor den Künsten nicht halt, scheinen sie im Gegenteil anzutreiben. Das Tempo ist dabei entscheidend. Das Theater verlangt nach „unbedingter Körperlichkeit und rein energetischer und vor allem sofortiger Präsenz, die keine Zeit mehr hat für lange Spannungsbögen“.61 Das postdramatische Theater zeigt ein zunehmendes Interesse am stimmlichen Experiment. Das gab es bereits vor der performativen Wende. Das erste dadaistische Manifest, von Hugo Ball am 14. Juli 1916 in Zürich vorgetragen, macht deutlich, wohin es mit Sprache und Stimme gehen sollte – wider die Konvention. In seinem dadaistischen Langgedicht „Ursonate“ arrangierte Kurt Schwitters in den 1930er Jahren Nonverbales in einer Partitur. Das von Antonin Artaud geforderte „Theater der Grausamkeit“ bediente sich expressiver Stimmgebung in Form von Glossolalie und exzessivem Schreien einschließlich Pauke, Gong, Xylophon und Trommel. Es sollte die Zuschauer schmerzhaft berühren wie in seinem Hörspiel „Schluss mit dem Gottesgericht“, das 1947 nach sechstägigen Proben und einer Aufzeichnung des französischen Rundfunks wegen Ungebührlichkeit nicht gesendet wurde. Die exzeptionelle Künstlerin Marina Abramovic schrie 1975 während einer Performance im Studentischen Kulturzentrum in Belgrad, bis nach drei Stunden ihre Stimme...