Auftritt
Lübeck: Kinder des Ennuis
Theater Lübeck: „Kinder der Sonne“ von Maxim Gorki. Regie Marco Štorman, Bühne Frauke Löffel, Kostüme Sara Schwartz
Erschienen in: Theater der Zeit: Frau Kulturstaatsministerin Grütters – greifen Sie ein!? (05/2016)
Assoziationen: Sprechtheater Theaterkritiken Schleswig-Holstein Theater Lübeck
Ein gemalter Gebirgsprospekt vor der hinteren Bühnenwand zeigt eine kahle, zerklüftete Ebene in Weiß und Grau, am Horizont felsige Berge. Menschenleere. Dystopie? Der Krater des Vulkans, auf dem in diesem Stück angeblich alle tanzen? Nach dem Ascheregen? Wenn, dann ist dieser Vulkan erloschen; denn der Gesellschaft, die sich hier im Haus des Chemikers Protassow und seiner Frau versammelt, droht an diesem Abend in Lübeck keine Gefahr von außen, sondern einzig die, die sie für sich selbst darstellt.
Maxim Gorki hatte „Kinder der Sonne“ nach der niedergeschlagenen Demonstration des sogenannten Blutsonntags 1905 geschrieben. Über 100 000 Menschen waren vor das Winterpalais in St. Petersburg gezogen, den Zaren um Reformen zu bitten. Doch dieser ließ nur das Feuer auf die Massen eröffnen. Dem Elend der Bevölkerung, dem Brodeln in der vorrevolutionären Gesellschaft Russlands gibt Gorki in seinem Stück ein metaphorisches Antlitz: eine Choleraepidemie. Aber er lässt die Oberschicht inklusive Intelligenzija auch den Gestaltungs- und Aufstiegswillen der Unterschicht spüren, die bereits Immobilien kauft und Fabriken plant.
In Lübeck versammelt Regisseur Marco Štorman die kleine Gesellschaft in einem hölzernen, halboffenen Pavillon mit Sauna und vorgelagertem Pool. Da sitzen, liegen, rauchen und planschen sie, passend zum russischen Banja-Klischee, in Badesachen und Pelzmützen mit dem Sexappeal der 1970er Jahre. Anstelle Gorkis rasanten, auf Durchzug gestellten Gesprächsklimas herrscht hier der nichtssagende Ennui eines lässigen Tags. Wenn hier aus dem Nichts Gespräche in Gang kommen, poppen Themen ohne Anlass und Not auf, finden einen Zuhörer, der lächelt, lächelnd etwas erwidert – doch genauso verebbt das Ganze wieder. Auch Gorkis titelgebende, den Fortschritt des Menschen aufrufende Genealogie vom Eiweißklumpen unter der Sonne zum Menschen als Kind der Sonne verkommt so zum reinen Spintisieren.
Štorman hat den Text für den Effekt der Langeweile radikal gestrichen, doch mit seiner Entscheidung, alle Charaktere in den entspannten Modus zu dimmen, leider auch ihre Kontroversen und Defizite nivelliert. Das skizziert zwar eine hedonistische Gesellschaft, die wie bei Gorki im Salongeist um sich selbst kreist, entledigt aber auch jede Figur ihrer emotionalen Verwerfungen und damit ihres Agens. Protassow ist hier kein autistischer Gelehrter, der seine Frau vernachlässigt, sondern ihr äußerst zugewandt, weshalb diese gar nicht das Problem haben kann, von dem sie dann redet. Und so sieht man die Schauspieler in Lübeck mit Pose und Kostüm auch ihre Leerstellen kaschieren. Einzig die unerfüllte Liebe, die der Hälfte der hier Versammelten das Leben als falsches im falschen erscheinen lässt, bekommt aus der Langeweile heraus halbwegs nachvollziehbar ihre Schübe, mit denen sie sich gegenseitig überfallen, um in ironischer Volte zu flüchten oder daran zu verzweifeln. Der Tod des unglücklich verliebten Veterinärs Tschepurnoi ist bei Štorman jedoch kein opheliahafter Selbstmord. Den tödlichen Schuss in den Kopf feuert Mischa ab, bei Gorki eine der Nebenfiguren, die in Lübeck komplett gestrichen sind. Ihn hat Štorman zur personifizierten Gefahr stilisiert. In ihm amalgamiert er den fordernden Gestus der Unterschicht mit der sich ausbreitenden Cholera zu einer rätselhaften Figur, die in schwarzem Anzug, mit Lederhandschuhen, Prinz-Eisenherz-Perücke und unbestimmtem Lächeln einem Horroroder David-Lynch-Film entlehnt sein könnte. Immer wieder taucht er auf, mal mit Täschchen, mal mit Maschinengewehr, hüstelt, plakatiert die Wände des Pavillons: mit Bildern von Stacheldrahtzäunen, dahinter er selbst als Flüchtling (?) abgebildet. Er irritiert die Anwesenden, aber bedrohlich wirkt das nie. Štorman will eine abgeschottete Gesellschaft zeigen, die ihre Außenwelt nicht mehr wahrnimmt, und umstellt sie einzig mit Zeichen – Vulkan, Stacheldraht, aus dem Off skandierter Demo-Protest, eine Kunstfigur mit MG. Weil das keine existenzielle Bedrohung ist, muss man im Inneren schließlich selbst hysterisch aufrüsten, um so etwas wie Angst vor einer Gefahr zu spielen. So gesehen und in Analogie zu den mystischen Figuren in Lynchs Filmen, die dort als Auslagerungen individuell unterdrückter Ängste den Protagonisten auf dem inneren Möbiusband quasi außen entgegenkommen, könnte diese Bedrohung in Lübeck auch nur die psychische Eruption einer neurotischen Gesellschaft gewesen sein. //