Theater der Zeit

Bericht

Erbe sein – Erbe haben

Gedanken zum kuratorischen Konzept von „Depot Erbe“

von Anne Kersting

Erschienen in: Arbeitsbuch 2017: Heart of the City II – Recherchen zum Stadttheater der Zukunft (06/2017)

Assoziationen: Performance Kostüm und Bühne Baden-Württemberg Theater Freiburg

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„Ich war ganz zufrieden, entwurzelt zu sein, weil ich eben den Einfluss der Wurzel auf mich fürchtete. Ich wollte mich davon befreien. Als ich auf der anderen Seite war, gab es keinerlei Wurzeln, da ich in Europa geboren war. Ich befand mich dort in einem angenehmen Bad, weil ich ruhig schwimmen konnte, während man nicht ruhig schwimmen kann, wenn es zu viele Wurzeln gibt. Verstehen Sie?“ (Marcel Duchamp)

Als Gertrude Stein einst gefragt wurde, ob sie im selbst gewählten Pariser Exil nicht die USA vermisse, antwortete sie: „Wozu hat man Wurzeln, wenn man sie nicht mitnehmen kann?“ Siebzig Jahre später ist die Frage nach kulturellen Wurzeln aktueller denn je. Über 175 Millionen Menschen leben außerhalb ihres Heimatlandes, geschätzte 60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht vor Kriegen und Verfolgung. Migration, die Intensivierung der Menschenund Geldströme, berufliches Nomadentum, die Verdichtung der Verkehrsnetze und Massentourismus lassen neue transnationale Kulturen hervortreten, die zu Veränderungen und zu Verflechtungen von Identitäten, Ethnien und Nationalitäten führen. Vor welche kulturellen Herausforderungen stellt uns „Multikulturalismus“ als längst nicht mehr neues, aber sich stetig veränderndes Phänomen? Wie können wir jenseits des Gedankens, ein Mensch sei primär Träger seiner Herkunft, über transnationale Gesellschaften nachdenken? Wie ist es inmitten dieser Fragen um die Relevanz von kulturellen Wurzeln bestellt? In ihrem Namen entwickeln sich Rassismus und traditionalistische Ideologien rasant und befördern den Ausschluss des Anderen, während sich mit jeder Migrationswelle Phänomene von Entwurzelung häufen, die zur Veränderung zahlreicher Identitäten und geschichtlicher Singularitäten führen. In diesem kulturellen Zwiespalt formieren sich erneut obsessive Gedanken von Zugehörigkeit, Besitz und Herkunft.

„Depot Erbe“ warf einen Blick in die Zukunft und fragte: Wer erbt, und was werden Erbinnen und Erben geerbt haben? Internationale Künstlerinnen und Künstler gingen der Frage nach, wem kulturelles Erbe heutzutage gehört und in wessen Besitz es übergeht, diskutierten über den Verbleib ihres Materials und erfanden Formate der Übergabe an die Besucher. „Depot Erbe“ war ein temporäres, performatives Museum, das Transmissionsketten produzierte und sich fragte, was ein Nachkomme, eine Nachkommin ist, wenn nicht nur Träger/-in ihrer/seiner Herkunft.

Fünf Wochen lang versammelten sich Choreografinnen und Choreografen, Performancekünstlerinnen und -künstler im Museum für Neue Kunst in Freiburg und im Theater Freiburg, um ihr künstlerisches Material dahingehend zu untersuchen, an wen es vererbbar ist. Mit Formaten der Weitergabe suchten die Künstler nach der aktiven Übernahme materiellen und immateriellen Erbes durch die Besucher und nach seiner Verbreitung in alle Richtungen. Die Besucher von „Depot Erbe“ waren dazu eingeladen, Praktiken von Aneignung vor Ort zu erproben und die Frage zu diskutieren: Wie setze ich fort, was jemand anderes angefangen hat?

So hinterließ Joanne Leighton im Museum das Salz, mit dem sie den Bühnenboden ihrer einige Monate zuvor am Theater Freiburg aufgeführten Choreografie „9000 Steps“ ausgelegt hatte. Nun waren es die Schritte der Besucher, die sich im Boden des Museums einschrieben und das Werk täglich umschrieben.

Olga de Soto präsentierte in einer Videoinstallation die Erzählungen von Zeitzeugen, die Kurt Jooss’ berühmte Choreografie „Der Grüne Tisch“ erinnern. Tänzer und Zuschauer unterschiedlicher Generationen und Herkünfte verwoben ihre Erinnerungen an das Stück mit der Geschichte des Folkwang-Balletts, das 1933 nach England emigrierte.

Ivana Müller stellte das Ergebnis einer mit Randnotizen versehenen kollektiven Lektüre von Daniel Heller-Roazens Buch „Echolalien – Über das Vergessen von Sprache“ aus (Lese-Kollaborateure waren unter anderem Bojana Kunst, David Weber-Krebs, Jonas Rutgeerts). Damit rückte sie nicht das Buch, sondern die Autorschaft des interpretierenden Lesers in den Vordergrund ihrer Installation.

Jochen Roller reinszenierte eine Zukunftsvision von Tanz im Jahr 2046, die er bereits 2003 für die Bühne entwickelte und deren Gegenwart 14 Jahre später für den jetzigen Museums- oder Theaterbesucher näher rückte.

LIGNA entwickelte eine Audiotour für den Freiburger Stadtraum, welche das Erbe des Faschismus in der Stadt vergegenwärtigte. Die Stimmen, die sich an die Besucher richteten und sie dazu aufforderten, sich in der Stadt zu positionieren, dienten weniger einer historischen Aufarbeitung als einer Sichtbarmachung unheimlicher Wiedergänger des Erbes in jüngster Zeit: der Herrschaft des Ressentiments, der Angstlust einer paranoiden Weltwahrnehmung und der Wiederkehr des autoritären Charakters.

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