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Literatur: Utopie aus vergangener Zeit
von Tom Mustroph
Erschienen in: Theater der Zeit: This Girl: Die Schauspielerin Johanna Wokalek (09/2014)
Manche Dinge brauchen, um zu reifen. 14 Jahre dauerte es, bis „Perdido Street Station“ des britischen Autors China Miéville auf Deutsch erschien. Es ist schlichtweg schade, so lange auf diese verblüffende Mischung aus Science-Fiction, Fantasy und sozialem Realismus gewartet zu haben. In der Haupterzählung verhandelt der Roman eine denkbare nächste Stufe der Ausbeutung in der Informationsgesellschaft: Mörderischen Riesenfaltern sind die Träume anderer Nahrung, die sie mit schalem Restbewusstsein zurücklassen.
In einem Seitenarm seines Erzählstroms macht Miéville, selbst eine erstaunliche Mischung aus Marxist, Abenteurer und Literaturerneuerer, auf eine Gesellschaftsform aufmerksam, die eine ganz besondere Form des Ausgleichs zwischen Individualität und Kollektivität gefunden hat – hierin liegt das dramatische Potenzial der Erzählung. Das gravierendste Vergehen in dieser Gesellschaft aus menschenähnlichen Vogelwesen ist es, wenn ein Mitglied einem anderen dessen Möglichkeiten nimmt. Jeder kann tun, was er möchte, solange er nicht die Freiheiten eines anderen beschränkt. Wer Nahrung stiehlt, raubt dem anderen nicht nur das Essen, sondern auch dessen grundsätzliche Möglichkeit, sich zu ernähren, sprich: am Leben zu bleiben. Wer jemanden vergewaltigt, nimmt demjenigen die Möglichkeit, emotionale oder sexuelle Beziehungen eigener Wahl einzugehen und sich fortzupflanzen. Die Ahndung dessen ist vergleichsweise hart: Wer einem anderen den Möglichkeitsraum zur vollen Entfaltung seiner Individualität genommen...