Theater der Zeit

Auftritt

Bremen: Räuberjagd mit Ohrstöpseln

Theater Bremen: „Still out there“ von kainkollektiv. Regie Fabian Lettow und Mirjam Schmuck, Choreografie Ina Sladic, Ausstattung Alexandra Tivig

von Alexander Schnackenburg

Erschienen in: Theater der Zeit: Schauspiel Leipzig – Martin Linzer Theaterpreis 2017 (06/2017)

Assoziationen: Sprechtheater Theaterkritiken Bremen Theater Bremen

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Die Bremer Stadtmusikanten werden wohl keine Freunde des Theaters Bremen mehr. Zumindest nicht jene, welche der Bildhauer Gerhard Marcks 1953 in Bronze gegossen hat und die seither vor dem Rathaus stehen. Erst vor wenigen Jahren ließ Regisseur Volker Lösch Marcks‘ Tiere durch Schillers „Räuber“ vergewaltigen. Dieser Tage sind es das kainkollektiv und die Jungen Akteure, die Schüler der Theaterschule des Theaters Bremen, die dem Denkmal arg zusetzen. In „Still out there“ fordern sie den Besucher nämlich dazu auf, Esel, Hund, Katze und Hahn aus ihrem „bronzenen Sarg“ zu befreien. Denn sie seien nie wirklich in Bremen angekommen.

All dies erfährt der Zuschauer, noch ehe die Vorstellung so richtig begonnen hat: per Hörspiel. Jeder trägt einen MP3-Player mit Ohrstöpseln bei sich. So ausgerüstet informieren ihn das kainkollektiv (Fabian Lettow und Mirjam Schmuck) und die Jungen Akteure nicht nur über Bremens jüngere Geschichte, sondern stimmen ihn auch auf die gemeinsame Mission ein: den Geist der wahren Bremer Stadtmusikanten wachzurufen und Räuber aus der Stadt zu jagen. Zu diesem Zweck dirigiert das Ensemble die Besucher in vier kleinen Gruppen vom Theater ausgehend durch die Altstadt.

Wir schließen uns der „Katzen“-Gruppe an. Unser Weg führt durch die Wallanlagen, dort entlang, wo sich einst die Stadtmauern befanden. Während uns jugendliche Stimmen durch die Ohrstöpsel über die Hintergründe zu Bremer Straßennamen unterrichten, unterlegen andere Junge Akteure diese Erzählungen vom Wegesrand aus mit wirkungsvollen Choreografien. Meist geht es dabei um Flucht, dann wieder um Protest. Nur gemeinsam könne man gewinnen, lautet die Botschaft. Und damit wir auch wirklich begreifen, wie wichtig der Zusammenhalt aller ist, fordert uns die Regie schließlich dazu auf, den Nebenmann oder auch die Nebenfrau zu umarmen, gleich, ob es sich um ein Ensemblemitglied oder einen Zuschauer handelt. Die Grenzen verschwimmen. In unseren Ohrstöpseln ertönt unterdessen viel Barockmusik sowie schließlich ein ziemlich wüster Querschnitt durch Richard Wagners „Götterdämmerung“. Passenderweise erklingt das Finale genau dort, wo einst Bremens Opernhaus stand, ehe es nach Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg in Schutt und Asche aufging.

Nicht so das „Räuberhaus“, das wir anschließend betreten, inzwischen ohne Stöpsel im Ohr. Es handelt sich um die Spielstätte der Jugendsparte Moks. Mitglieder des Syrischen Exil-Orchesters Bremen stimmen fernöstlich anmutende Klänge an. Dazu tanzt die Tänzerin und Choreografin Ina Sladic aus Zagreb. Zwischendrin sprechen bis zu 36 Junge Akteure im Chor; Lukas Zerbst wirft Video-Sequenzen – vornehmlich Gesichter der vielen Akteure – an die Wand. Dem beinahe besinnlichen Spaziergang folgt auf diese Weise ein wahres Spektakel.

Die Transparenz des Abends aber droht mit seiner zunehmenden Opulenz verloren zu gehen. Auf der Bühne entwickelt sich ein Frage-Antwort-Spiel, in dem es um Kolonial- und Hausbesetzergeschichten ebenso zu gehen scheint wie um die Geschicke Geflüchteter, um das Verhältnis von Kindern zu Erwachsenen und von Menschen zu Tieren. Hie und da schimmert das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten zwar weiterhin durch; die Rollenverteilung aber erscheint jetzt viel komplizierter als zu Beginn des Abends. Irgendwie könnte nun jeder ein Räuber sein. Oder ein Tier. Vielleicht auch ein Kind. Das kainkollektiv und die Jungen Akteure überfrachten den zweiten Teil ihrer Inszenierung mit viel zu vielen Einfällen, gerade so, als hätten sie am liebsten wenigstens drei Theaterstücke zusammen auf die Bühne gebracht.

Tatsächlich wird das kainkollektiv in der kommenden Spielzeit neuerlich ein Stück mit dem Moks-Theater und seinen Jungen Akteuren entwickeln. Auch in „Of coming tales“ wollen Fabian Lettow und Mirjam Schmuck der Geschichte Märchenstoffe zugrunde legen. Räuber zum Vertreiben wird es dann aller Voraussicht nach auch noch zur Genüge in Bremen geben. //

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