Theater der Zeit

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Bericht

Ambige Körper, klare Message?

ImPulsTanz Wien zeigt mitreißende Choreos voller Ambivalenz. Ein Einblick.

von Leonard Kaiser

Assoziationen: Österreich Tanz Dossier: Festivals ImPulsTanz Wien

Von mittelalterlichen Hoftänzen bis Salsa: „To the Hands“ von BODHI PROJECT ist eine tänzerische Erkundung von Berührungen, Beziehungen und Nähe – und ihrer Kultur.
Von mittelalterlichen Hoftänzen bis Salsa: „To the Hands“ von BODHI PROJECT ist eine tänzerische Erkundung von Berührungen, Beziehungen und Nähe – und ihrer Kultur. Foto: Albert Vidal

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Das Festival ImPulsTanz belebt auch dieses Jahr zahlreiche Spielstätten der Kulturstadt Wien mit Performances, Workshops und Symposien, sowie die Sommernächte mit Musik und Partys. Weil es nahezu unmöglich ist, dieses Festival mit 125 Vorstellungen – darunter sieben Uraufführungen und 30 Österreich-Premieren – in seiner Gänze abzubilden, stellt dieser Bericht eine Auswahl dar. Es soll schwerpunktmäßig um drei herausstechende Arbeiten der dritten Festivalwoche gehen: „To the Hands“ von der Kompanie BODHI PROJECT mit dem belgischen Choreografen Michiel Vandevelde, „BREL“ von Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker und Solal Mariotte und „Gush is Great“ der Gruppe Production Xx.

Ein Stups Kulturgeschichte

Können Augen sich küssen, wie Lippen es tun? „To the Hands“ eröffnet mit einer Folge aus kreatürlichem Tanzsolo und schlicht eingesprochener Lecture, die das „Zeitalter der Exkarnation“ referiert. Die Arbeit der Salzburger Company BODHI PROJECT mit dem belgischen Choreografen Michiel Vandevelde ist eine tänzerische Erkundung von Berührungen, Beziehungen und Nähe – und ihrer Kultur. Die Choreografie zitiert Gesellschaftstänze von mittelalterlichen Hoftänzen bis Salsa, sowie fragmentarische Nachstellungen von Berührungen in der Kunstgeschichte, wie die Fingerspitzen Adams bei Michelangelo oder Gustav Klimts Kuss. Als Element der Lecture werden die Titel der Kunstwerke über die Tänzer:innen projiziert. Die Begleitung durch Musik der Sängerin und Komponistin neuer klassischer Musik Caroline Shaw und der Poetin Kristin Hayter, besser bekannt als Lingua Ignota, erweckt dabei mal Rauheit und Härte mal spirituelle Erhabenheit, die sich auf spannende Weise nicht immer mit der Qualität der Choreografie deckt. Doch auch die Tänzer:innen lösen sich mehr und mehr von Zitaten und erforschen Dynamiken der Berührung, die sich zwischen gegenseitiger Abhängigkeit, Erotik, Sexualität, Spiel und Humor immer wieder neu und überraschend verfangen.

Die Texteinspieler vermitteln einen konzeptuellen Anspruch der Arbeit, bleiben aber selbst oft kryptisch und halbwissenschaftlich. Die Assoziationen von Gender wirken dem gegenüber eher unreflektiert: Männlich gelesene Tänzer bekommen die humoristische Szene, weiblich gelesene Tänzerinnen eher die sinnlichen Soli. Dennoch entfalten sich im Tanz Ambivalenzen und Nuancen, die erforschen, welche Berührungen auf der Bühne angemessen und welche verschiedenen Sinnlichkeiten in ihnen liegen.

Verlass mich nicht

Ein Mikrofon, ein Lichtkegel, zwei Tänzer:innen in schlichten Anzügen und dann der erste Song des berühmten Chansonniers Jacques Brel aus den Lautsprechern. Für „BREL“ geht die flämische Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker mit dem Tänzer Solal Mariotte ihrer Faszination für den 1978 verstorbenen Jacques Brel nach, der neben seinem umfangreichen Repertoire an Chansons über Liebe, Melancholie und die Bourgeoisie für seine theatralischen, expressiven und energetischen Bühnenauftritte bekannt ist. Es folgt fast ununterbrochen über eineinhalb Stunden eine Auswahl seiner Chansons, die den Tänzer:innen eine Fläche für die Suche nach dieser Faszination selbst gibt. Mit immer wiederholten Bewegungen, die Brels Bewegungsqualität und Energie einfangen oder seine Gesten imitieren, löst sich die Darstellung nie im Reenactment oder Klischee auf, sondern bleibt als Versuch stehen. Für Nicht-Kenner ist die Choreografie weitgehend unlesbar, bis sie sich über Originalaufnahmen von Brels Auftritten legt. Offenbart sich dann zwar die konzeptuelle Form, bleibt die Faszination als existenzieller Antrieb der Arbeit, der sich nicht entschlüsseln lässt.

Keersmaekers Stück ist für Jacques Brel-Fans und vielleicht auch nur für seine Fans, denn der eineinhalbstündige Abend hat mit seiner konsequenten und hermetischen Form durchaus Aussteigpotential. Gleichzeitig wird in der fast obsessiven Suche, der Intensität und Ausstrahlung Brels nachzuspüren und zu verkörpern, eine einzigartige Energie frei. Die konzeptuelle Form wird zu einer Versuchsanordnung für die Tänzer:innen und bekommt durch die Erschöpfung der Versuche eine performative und poetische Kraft.

Ein großer Aufriss

In Zeitlupe bewegen sich die fünf Performer:innen auf das Publikum zu, ein Arm reicht hinter die nächste Person, eine Dose wird hervorgezogen und fällt zu Boden, ein Strauß Rosen, ein elektrisches Hundekuscheltier. „Gush is great“ der Gruppe Production Xx (bestehend aus Julie Botet, Simon Le Borgne, Max Gomard, Philomène Jander, Zoé Lakhnati und Ulysse Zangs) eröffnet mit einer technisch anspruchsvollen Trickshow einen Zustand, in dem die Zeit stehen bleibt. Während die Requisiten in Echtzeit fallen, fliegen, explodieren oder in Form eines Fahrradfahrers vorbeirasen, bleibt die Gruppe stoisch und gefasst und hinterlässt nur eine Spur des Chaos. Es ist eine filmisch surreale Poesie, wie ein Augenblick, in dem das Leben vorbeizieht – Assoziationen der Konsumgesellschaft oder sind es persönliche Erinnerungen?

In der halben Stunde der Performance gerät der Zustand nicht in Gefahr, seine sirrende Spannung zu verlieren, er erzählt sich aber auch nicht aus. Und wenn die Performenden als letzten Gegenstand eine Palästina-Flagge aus ihrer Jacke ziehen und sie nicht, wie alle anderen wegwerfen, sondern wieder behutsam verstecken, ist das nur ein vermeintlicher Schlüssel zum Kern der Arbeit. Lassen sich Wasserpistolen, knallendes Konfetti und Buttermesser als Foreshadowing der Gewalt lesen, bleibt die Gesamterzählung offen. Doch das aktuelle und notwendige Symbol der Flagge wirft, indem es selbst eine spezifische Antwort gibt, offene Fragen auf: Was ist lebenswichtig? Was ist Ablenkung? Wofür stehen, kämpfen und sterben wir?

Schlüssel, Bilder, Ambiguitäten

Die vor Anstrengung zittrige Berührung zweier Menschen, der nie endende Versuch des Körpers, zum Bild zu werden und schließlich der surreale Schwebezustand, der alles oder nichts bedeuten kann – Die Arbeiten widmen sich kulturellen Objekten und den Beziehungen zu ihnen. Sie erzählen durch Körper, die spüren, die sich anstrengen, die Spuren tragen und hinterlassen. Verschieden, wie sie sind, zeichnen sich die Arbeiten durch ehrliche Versuche und Erkundungen durch Tanz aus, die dann faszinieren, wenn sie sich nicht erklären oder entschlüsseln, sondern sich der Offenheit und Ambiguität der Körper hingeben.

Erschienen am 12.8.2025

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