internationales dramatiker*innenlabor „out of sight“
Schmerzvolle Texturen
„Bîra Miriyan (Totenbrunnen)“ von Yildiz Çakar
von Marion Acker
Erschienen in: Theater der Zeit: Volksbühne Neu (11/2021)
Assoziationen: Dramatik
Wie lässt sich die Intensität leidvoller Affekte literarisch vermitteln, noch dazu in einer Sprache, deren Gebrauch lange Zeit verboten war? Sich der eigenen Muttersprache bedienen zu dürfen, ist für die 1978 in Amed (türkisch: Diyarbakir) geborene, heute in Berlin lebende Schriftstellerin Yildiz Çakar alles andere als selbstverständlich. Dass der im Rahmen des internationalen Dramatiker*in nenlabors „Out of Sight“ entstandene Text „Bîra Miriyan“ auf Kurdisch verfasst ist, kann daher als Ausdruck eines künstlerischen Freiraums und einer bewussten Selbstverortung gewertet werden. Der Titel des Stücks, dessen deutsche Übersetzung durch Sivan Kalesh „Totenbrunnen“ lautet, spielt auf das mysteriöse Verschwinden Tausender Menschen an, die in den neunziger Jahren, als der sogenannte Kurdenkonflikt im Südosten der Türkei einen Höhepunkt erreichte, ermordet, mit Säure überschüttet und in Brunnen geworfen wurden. Diese Gräuelgeschichte hat Çakar, die neben ihrer Tätigkeit als Korrespondentin und Redakteurin für kurdische Zeitungen bisher vor allem als Lyrikerin und Prosaschriftstellerin in Erscheinung getreten ist, in eine literarische Form gebracht, in der sich Politisches und Poetisches gegenseitig durchdringen und zu einem hybriden Text verbinden.
Zwischen Selbstgespräch und Dialog, Klagegesang und narrativem Gestus oszillierend, lässt Çakar in ihrem Debüt als Dramatikerin verschiedene Mütter auftreten, deren Reden ein gemeinsamer Wunsch vereint: der Wunsch nach Gewissheit über den...