Theater der Zeit

Auftritt

Cottbus: Verrutscht

Staatstheater Cottbus: „Raumfahrer“ nach dem Roman von Lukas Rietzschel (UA). Bearbeitung und Regie Paula Thielecke, Bühne/Kostüme Jan Koslowski, Video Max Kubitschek, Musik Mika Amsterdam

von Thomas Irmer

Erschienen in: Theater der Zeit: Der Untergang des russischen Theaters (10/2022)

Assoziationen: Brandenburg Theaterkritiken Paula Thielecke Staatstheater Cottbus

Auf Wiedersehen auf Sorbisch: „Raumfahrer" in der Regie von Paula Thielecke am Staatstheater Cottbus von vorn nach hinten: Sophie Bock, Markus Paul, Sigrun Fischer und Jonathan Reimer (Live-Kamera), Sigrun Fischer und Torben Appel. Foto Marlies Kross
Auf Wiedersehen auf Sorbisch: „Raumfahrer" in der Regie von Paula Thielecke am Staatstheater Cottbus von vorn nach hinten: Sophie Bock, Markus Paul, Sigrun Fischer und Jonathan Reimer (Live-Kamera), Sigrun Fischer und Torben Appel.Foto: Marlies Kross

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Der Ausruf „MAZ ab!“ für kleine Einspieler zu den Figuren dieser Inszenierung stammt aus der TV-Steinzeit und setzt hier gleich den ersten falschen Ton. Das soll natürlich lustig sein und für Leichtigkeit sorgen, doch damit verrutscht schon mal der Einstieg in diese Adaption von Lukas Rietzschels im vergangenen Jahr erschienenem Roman „Raumfahrer“, der auf sein fulminantes Debüt „Mit der Faust in die Welt schlagen“ folgte. „Raumfahrer“ erzählt die Familiengeschichte des Krankenpflegers Jan Nowak in der Oberlausitz um Kamenz, der, 1989 geboren, eine ungewisse Vaterschaft aufzuklären versucht. Ist er in einer von der Stasi angeleiteten Beziehung ­seiner Mutter mit Günter Kern, dem Bruder des aus Deutschbaselitz stammenden Malers Georg Baselitz, gezeugt und sein Vater nicht der richtige Vater? Auf der symbolischen ­Ebene bedeutet das für den in Wende und Wiedervereinigung Hineingeborenen, wer seine Eltern überhaupt waren oder sind und damit die bohrende Frage nach der Bedeutung seiner ostdeutschen Herkunft. Rietzschel, selbst in der Gegend geboren und aufgewachsen, erzählt damit auch, was im Osten Sachsens in den zwei Jahrzehnten nach der Wende passierte (siehe dazu auch TdZ 3/22). Lakonisch im scheinbar beiläufigen Detail: Jans Krankenhaus wird bald geschlossen, aber ­Moribunde bringt er täglich zu überflüssigen MRT-Untersuchungen, mit denen Kasse gemacht wird. Öffentlichen Nahverkehr gibt es nur noch auf telefonische Bestellung. Und auf den Flächen abgerissener Plattenbauten umpflanzen und verzieren die nach dem Wegzug der Jungen Verbliebenen in ihren Kleingärten Gullydeckel der einst größer angelegten Kanalisation. Transformation tristesse.

Was Paula Thielecke und ihr Team (in der Mehrheit wie Rietzschel ostdeutsch Nachwende-sozialisiert) dazu angetrieben hat, das Ganze wie eine weitere Version von Leander Haußmanns durchaus mit Hintersinn ­lustigen Film „Sonnenallee“ (1999) anzugehen, ist eine große Frage. Es geht jedenfalls an der Atmosphäre des Romans völlig vorbei und damit auch an dem, was Rietzschel mit seiner Arbeit immer wieder betont: Er möchte, dass mit dieser Region gesprochen wird, nicht über sie. Das Lied „Unsere Heimat“ wird auf die Lausitz verballhornt, ein anderer Minifilm mit einer Musik aus „Solo Sunny“ als Muzak unterlegt – soll peppen wie die ­Einspieler, die wie aus dem Nachmittags­fernsehen wirken, mit ihrer grottigen Grafik noch dazu.

Vier Schauspieler:innen müssen die recht komplexe Geschichte in manchmal rasanten Rollensprüngen stemmen. Wer das Buch nicht kennt, hat kaum eine Chance mitzukommen. Markus Paul bietet als Jan noch den Anker, auch, weil seine Rolle erkennbar bleibt. Doch die anderen drei springen durch Figuren und Zeiten mit zwei Familiengeschichten, deren Zusammenhang ja gerade das Rätsel ihres Verhängnisses betrifft. So ist Sigrun Fischer etwa (mit wechselnden Perücken) Jans geliebte Oberärztin und seine Mutter in ihrer Stasi-Vergangenheit. Die Mutter der Nachwendezeit wird von Sophie Bock gespielt, die wiederum den Baselitz-Bruder Günter in anderen Szenen darstellt. Vielleicht verbirgt sich dahinter eine raffinierte Familienaufstellung –, aber richtig erkennbar wird auch das nicht. Das Bühnenbild von Jan Koslowski zeigt die Fassade eines eingeschossigen ­Eigenheim-Neubaus, der immer wieder gedreht und herumgeschoben wird, Zeichen für den fragilen Wohlstand des Vaters als ehemaliger Karpfen-Fischgenossenschaftler.

Gebraucht wird sie vor allem als Projek­tions­fläche für kaum notwendiges Live-Video. Schön und beziehungsreich sind die an den Seitenwänden der Kammerbühne hängenden Bilder der zeitgenössischen Anverwandlungen (oder Neuinterpretationen) von Baselitz’ Kopfüber-Bildern. In diesem Sinne hätte die Inszenierung mehr machen können. Ja, immerhin werden auch andere Lausitz-Orte angesprochen, Hoyerswerda zusammen mit einem Foto von Brigitte Reimann und Boxberg und noch dies und das. Für eine Theater­adaption dieses wohl doch bedeutenden ­Romans – bitte noch mal anders. //

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